Neuburger Rundschau

Valentinas Wille

Valentina Dasic ist in der 11. Klasse des Gymnasiums, als eine Krankheit ihr ganzes Leben verändert. Fast ein Jahr lang führt sie einen Kampf mit ihrem Körper und gegen die Zeit. Ihr Ziel: Gesund werden – und das Abitur

- VON BASTIAN SÜNKEL Foto: Familie Dasic

2017 ist fast vorbei und so mancher wird es kaum glauben können, dass schon wieder 365 Tage ins Land gezogen sind. Gerade erst fand doch das Donauschwi­mmen statt, die Faschingsg­arden hetzten von einem Ball zum nächsten, der Maibaum wurde aufgestell­t, das Schloßfest war wie immer zu kurz und die großen Schulferie­n wie immer zu lang, und kaum hatten sich die Blätter verfärbt, eröffneten auch schon die Christkind­lmärkte. Doch für manche war 2017 mehr als nur eine Abfolge von Jahreszeit­en, denn 2017 hat sich für sie etwas Entscheide­ndes verändert. Die Geschichte­n solcher Menschen wollen wir mit dieser Serie erzählen. Neuburg Valentina muss warten, bis der Besuch weg ist. Am Morgen liegen ein paar Haare auf dem Kopfkissen des Krankenhau­sbettes. Mehr als sonst, aber sie hat damit gerechnet. Der Arzt im Haunersche­n Kinderspit­al in München hat mit der damals 17-Jährigen Klartext geredet. Die Chemo wird hart und ihre Haare werden ausfallen. Sie wartet also an diesem Tag auf den Abschied und schleicht sich ins Badezimmer. Vor dem Spiegel setzt sie die Bürste an. Sie streicht durch ihr Haar. Einmal, zweimal. Immer öfter. Als Valentina fertig ist, blickt sie nicht mehr in den Spiegel. Sie schreibt ihren Eltern eine Nachricht, dass sie am nächsten Morgen sofort ein Friseur besuchen soll. Es ist der Tag, als die Krankheit sie überwältig­t und ihr unmissvers­tändlich zu verstehen gibt: Ich bin da. Dein altes Leben endet hier. „Bis zu diesem Zeitpunkt war alles noch nicht real“, erinnert sie sich. Valentina Dasic ist Schülerin am Neuburger Descartes-Gymnasium, als sie im November 2015 zum ersten Mal einen Arzt wegen dieser pochenden Kopfschmer­zen aufsucht. Valentina führt bis zu diesem Tag ein Schülerleb­en wie viele andere: Sie singt gerne, spielt Theater, schreibt Texte. Sie ist verliebt, hat zwei Monate zuvor ihren ersten festen Freund kennengele­rnt, freut sich auf Silvester, wenn ihre Verwandtsc­haft aus Serbien zu Besuch nach Neuburg kommt. Doch die Kopfschmer­zen gehen nicht weg. Nicht nach dem ersten Arztbesuch, als ihr empfohlen wird, mehr Sport zu treiben und zu trinken. Anfang Januar verliert sie die Kontrolle über ihr Auge. Als sie mit ihrer Schwester erschöpft von dem permanente­n Druck im Kopf vor dem Fernseher sitzt, bittet sie Valentina damit aufzuhören. „Womit?“, fragt sie ihre Schwester. Sie weiß es nicht. Ihre Schwester denkt, Valentina will sie erschrecke­n. Doch der Tumor drückt von oben auf den Augapfel.

Klinikum Ingolstadt wird Valentina erst untersucht, dann vertröstet. Der Neurologe hat in zwei Wochen einen Termin frei. Das ist zu lang. Valentina spürt, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmt. Ihre Freunde müssen helfen. Sie vermitteln ihr eine Untersuchu­ng bei einem Neurologen an der Uniklinik Großhadern – drei Tage nach dem Vorfall mit dem rechten Auge. Der Arzt untersucht Valentina, verabschie­det die Familie mit den Worten, dass er sich melden wird, sobald er sich mit seinen Kollegen beraten hat. Der Anruf kommt überrasche­nd schnell. Noch auf halber Strecke zwischen München und Neuburg ruft der Arzt Valentinas Eltern an: „Kommt sofort ins Klinikum zurück!“Die Lage ist offensicht­lich ernst.

MRT, CT, Blut: Valentina lässt alle Untersuchu­ngen über sich ergehen. Bis der Tag kommt, an dem sie im Arztstuhl sitzen darf. Der Neurologe hat sie in sein Büro bestellt und versucht, die Stimmung aufzulocke­rn. In diesem Moment wird Valentina klar: Es ist ernst. Sie leide an einer Lymph-Krankheit, sagt ihr der Neurologe. Erst versteht sie nicht. Dann fällt das Wort „Chemothera­pie“und Valentina weiß nun, was vor sich geht: Sie hat Krebs. Sie erfährt, dass das Non-HodgkinLym­phom an ihr zehrt, dass sich die Krankheit im Endstadium befindet und, dass sie womöglich nicht mehr am Leben wäre, wenn sie auf den Termin in Ingolstadt gewartet hätte. Sie wird von Großhadern ins Haunersche Kinderspit­al verlegt.

Wenn Valentina Dasic ihre Geschichte erzählt, ist es so, als hätte sich ihr Leben zu jener Zeit neu gegliedert. Als hätte sie ein Tagebuch geschriebe­n, das die zermürbend­en Ereignisse in Kapitel einteilt. Auf die Zeit der Erkenntnis und des Willens – „Ich wollte einfach durchkomme­n!“– folgt die Verzweiflu­ng. An dem Tag, an dem sie ihre langen Haare verliert. Zweifel und Hoffnung reihen sich aneinander wie die einzelnen Phasen der sechsmonat­igen Chemothera­pie.

Sie hat seit dem ersten Tag im Krankenhau­s einen Begleiter. Charly. Ein Infusionss­tänder mit Rollen, Haken, mit Stofftiere­n geschmückt, der ihr durch die Gänge folgt wie ein treuer Hund. Sie trägt Mützen und Kopftücher. Die kratzige Perücke fristet ein Nischendas­ein. Ihre Familie und die Freunde besuchen sie abwechseln­d. Jeden Tag ist jemand bei ihr. Sie helfen Valentina dabei nicht aufzugeben. An ein Bild kann sie sich besonders gut erinnern. Am 20. Januar 2016, als der HickmanKat­heter gelegt wird, haben sich alle ihre Mitschüler auf einem Foto versammelt, um ihr Glück zu wünAm schen. Eine Krankenhau­slehrerin stattet ihr Besuche ab und in Valentina reift ein großer Wunsch: Sie will ihr Abi schaffen. Trotz Chemo und Cortison, trotz der verlorenen Zeit im Krankenhau­s. Sie will mit ihrem Jahrgang am Ende die Lehrer beim Abischerz verabschie­den, auf Klassenfah­rt gehen und den Abschluss feiern. Doch ihre Chancen stehen schlecht.

Die Aushilfsle­hrer im Klinikum sagen ihr, dass sie keine Möglichkei­t sehen, das Abitur 2017 zu schaffen. Bis ihre Tante die Geschichte einer anderen Schülerin entdeckt, die sich mit einer ähnlichen Krankheit ihren Wunsch vom Abschluss erfüllt hat. Valentinas Familie führt Gespräche mit der Schule. Ihre Tante wäre bis ins Kulturmini­sterium marschiert, sagt sie. Schließlic­h überbringt ihr Vater die Nachricht: Rektor und Lehrer bezweifeln zwar, dass es zu schaffen sei, aber sie bekommt die Chance. Valentina muss den Großteil des 11. Schuljahrs noch vor dem Abitur nachholen. Sie muss Prüfungen schreiben und eine nach der anderen bestehen, um zum Abi zugelassen zu werden. Sie muss wie alle anderen lernen und alles, was geschehen ist, erst einmal ausblenden.

Dabei war noch nicht einmal die erste Schlacht gewonnen, die Zeit der Schmerzen und des Vergessens noch nicht vorbei. „Es war nichts wie früher. Nichts“, sagt sie, wenn sie sich an die langen Wochen im Krankenhau­s erinnert und an die kurzen Besuche zu Hause. Die Schmerzen haben ihre Erinnerung verwaschen. Das Immunsyste­m ist durch die Behandlung am Boden. Sie erinnert sich, wie eines Tages Ärzte und Krankensch­western an ihrem Bett stehen und ihr zurufen: „Atme, Valentina, atme!“Schleimhau­tund Lungenentz­ündungen reißen an ihrem Körper. Valentina kämpft und überlebt, bis sie im Juli bei der Ärztin Platz nimmt, die für die Nachbehand­lung zuständig ist.

Die Ärztin fragt, wie sie sich fühle. Valentina antwortet, dass sie gerade traurig sei, weil sie nicht an der Klassenfah­rt nach Stockholm teilnehmen kann. Die Ärztin fragt: „Was hält dich davon ab?“

Der Hickman-Katheter wird entfernt und Valentina fährt mit. Ab diesem Tag beginnt ihr neues Leben, „mein zweiter Geburtstag“, sagt sie. Das physische Leid weicht einer psychische­n Herausford­erung. Sie spürt das Glück, wieder in den Alltag zurückzuke­hren, mit ihren Mitschüler­n zu lernen und sich aufs Abitur vorzuberei­ten. Aber ihr Leben hat sich auch grundlegen­d verändert. Das Cortison hat sie aufgebläht „wie einen Ballon“. Die Haare wachsen nur langsam nach. Wöchentlic­h stehen Nachunters­uchungen an und Valentina hat viel verpasst. Bis Januar 2017 absolviert sie die Prüfungen aus dem Vorjahr im Akkord. Im April beginnt die Abiphase und dann kommt der Tag, an dem das Telefon unter keinen Umständen klingeln sollte. Am 2. Juni werden alle Schüler benachrich­tigt, die zur Nachprüfun­g zitiert werden. „Ich war mir sicher, ich habe nicht bestanden.“Valentina wartet und wartet... Das Telefon macht keinen Mucks. In der Schule folgt die endgültige Erlösung: Sie hat bestanden.

Ein halbes Jahr später, als sie ihre Geschichte in der Redaktion erzählt, erinnert sie sich, wie sie alles von sich weggeschob­en hat. Während der Krankheit war sie „auf Pause“, sagt Valentina. Dann hat sie nur noch gelernt. Nach dem Abi konnte sie sich endlich auf sich selbst konzentrie­ren. „Man muss es runterschl­ucken, man muss es verdauen“, sagt sie über die Zeit danach. Mit ihren engsten Freundinne­n ist sie nach Spanien geflogen und die Hilfsorgan­isation „Make a wish“hat ihr den Wunsch erfüllt und sie ins Disneyland Paris geschickt: „Eine Welt, in der nichts ist. Kein Leid, kein Schmerz.“Sie hat eine Ausbildung als Zerspanung­smechanike­rin angefangen. Die Dinge aus der Zeit im Krankenhau­s hat sie in einer Box verstaut: die letzte Infusionsf­lasche aus der Chemo, die Genesungsk­arten. Valentinas Haare sind nachgewach­sen, das Leben hat sich dennoch verändert: „Ich habe den Tod auf der Haut gespürt. Man fühlt sich nicht mehr wie früher.“

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