Neuburger Rundschau

Sie war dann mal weg

Marlene Zierheim hat ihr Büro in Ingolstadt für drei Monate gegen ein Kinderheim in Kenia getauscht. Wie es dazu kam und warum sie diesen Schritt immer wieder gehen würde

- VON MARCEL ROTHER

2017 ist fast vorbei und so mancher wird es kaum glauben können, dass schon wieder 365 Tage ins Land gezogen sind. Gerade erst fand doch das Donauschwi­mmen statt, die Faschingsg­arden hetzten von einem Ball zum nächsten, der Maibaum wurde aufgestell­t, das Schloßfest war wie immer zu kurz und die großen Schulferie­n wie immer zu lang, und kaum hatten sich die Blätter verfärbt, eröffneten auch schon die Christkind­lmärkte. Doch für manche war 2017 mehr als nur eine Abfolge von Jahreszeit­en, denn 2017 hat sich für sie etwas Entscheide­ndes verändert. Die Geschichte­n solcher Menschen wollen wir mit dieser Serie erzählen. Ingolstadt Die sichere Boomtown an der Donau gegen ein Entwicklun­gsland in Ostafrika tauschen. Klingt abwegig? Nicht für Marlene Zierheim. Die 31-jährige Frau aus Ingolstadt hat sich bewusst für ein sogenannte­s Sabbatical entschiede­n, eine bezahlte Auszeit von der Arbeit, in der sie sich drei Monate lang für Kinder in einem Heim in Kenia einsetzte. Ihr Arbeitgebe­r, die Audi AG, hat sie dabei unterstütz­t. Nicht ganz uneigennüt­zig.

Wie kommt man als junge Frau auf die Idee, solch einen Schritt zu wagen? Ganz einfach, sagt Zierheim. Nach ihrem Studium der Wirtschaft­swissensch­aften und ihrer Festanstel­lung in der Beschaffun­g sei sie „gesettelt“gewesen, also angekommen. „Dann dachte ich mir, es gibt noch mehr, das man tun kann“, sagt sie und erklärt den Ursprung ihrer Motivation. Einen Bezug zu Afrika hatte sie schon länger.

Bei einem Besuch in Kenia im Jahr 2011 hatte sie das Kinderheim der Stiftung „Kenia-Hilfe Schwäbisch­e Alb“kennengele­rnt. Von da an war für die junge Frau, die im Kreis sozial engagierte­r Eltern und dreier Geschwiste­r in Tübingen aufwuchs, klar: Sie will helfen. Zuerst wurde sie Mitglied der Kenia-Hilfe, seit 2014 ist sie deren Vorstandsv­orsitzende. Ebenfalls im Jahr 2014 hat sie den Verein „kidsneedfu­ture“mit Sitz in Ingolstadt ins Leben gerufen, um auch Menschen in der Region die Möglichkei­t zu geben, bedürftige Kinder zu unterstütz­en.

Als sie hörte, ihr Arbeitgebe­r bietet die Möglichkei­t eines Sabbatical­s, sah sie ihre Chance. Sie ging auf ihren Chef zu, der war von der Idee begeistert, und schon wurde geplant. Themen mussten übergeben und ein reibungslo­ser Arbeitsabl­auf für die Zeit während ihrer Abwesenhei­t sichergest­ellt werden. Das dauerte einige Monate. Im Frühjahr begannen die Planungen, Ende des vergangene­n Jahres war es dann so weit: Marlene Zierheim saß im Flugzeug nach Afrika.

bietet Audi jedem seiner insgesamt 60 000 Mitarbeite­r an den Standorten Ingolstadt und Neckarsulm die Möglichkei­t, zwischen einem und maximal 24 Monaten frei zu bekommen, erklärt Thomas Hasenbank, Leiter im Bereich Arbeitsbez­iehungen. Einzige Bedingung: Der Mitarbeite­r muss mindestens sechs Monate im Unternehme­n beschäftig­t sein. Ein Anspruch auf ein Sabbatical bestünde jedoch nicht. Die Auszeit beruhe auf dem Prinzip der „doppelten Freiwillig­keit“, sagt er. Das bedeutet: Beide Seiten, Arbeitnehm­er wie Arbeitgebe­r, müssten sich dazu bereit erklären. Aber, versichert er: „Wir sind in jedem Fall darauf bedacht, eine gute Lösung zu finden.“

Seit Einführung des Sabbatical­s im Jahr 2009 haben sich 3500 Mitarbeite­r im Unternehme­n für eine temporäre Auszeit von der Arbeit entschiede­n. Finanziert wird diese über ein bestimmtes Modell, bei dem die Mitarbeite­r für einen zuvor vereinbart­en Zeitraum auf einen gewissen Teil ihres Gehalts verzichten. Das so ersparte Geld bekommen sie im Anschluss während ihres Sabbatical­s monatlich ausbezahlt. Beispiel: Ein Mitarbeite­r arbeitet einen Monat für 50 Prozent seines Gehalts, im darauffolg­enden Monat hat er frei, bekommt aber weiter die Hälfte seines Gehalts. Oder: Er arbeitet zwei Jahre für 66 Prozent des Gehalts und hat ein Jahr frei, in dem er jeden Monat zwei Drittel seines ursprüngli­chen Gehalts erhält.

Die Idee dahinter ist einfach: „Die Mitarbeite­r haben die Möglichkei­t, andere Erfahrunge­n zu sammeln, den Akku aufzutanke­n oder mehr Zeit mit ihrer Familie zu verbringen“, sagt Hasenbank. Dabei spiele es für das Unternehme­n keine Rolle, was die Mitarbeite­r für die Zeit ihres Sabbatical­s geplant hätten. Oder wie Hasenbank formuliert: „Es besteht keine Begründung­snotwendig­keit – wenn sie nichts tun, ist es auch okay.“Diese Freiheit danken sie dem Unternehme­n bei ihrer Rückkehr im RegelGrund­sätzlich fall in zweierlei Hinsicht: Zum einen durch eine stärkere Bindung an den Arbeitgebe­r und zum anderen durch neue Fähigkeite­n, die sie in das Unternehme­n einbringen.

Marlene Zierheim hat nicht nichts getan. Im Gegenteil. Fast die gesamte Dauer ihrer dreimonati­gen Auszeit hat sie im „Karai Children´s Vocational Center“in der Nähe der kenianisch­en Hauptstadt Nairobi verbracht. Einem Projekt, das Straßenkin­der, Waisen oder Kinder aus armen Verhältnis­sen durch Schulbildu­ng und Erziehung in ein eigenständ­iges Leben begleitet. Es umfasst ein Kinderheim, eine Grundund eine Berufsschu­le sowie eine Farm zur Selbstvers­orgung. Zierheim lebte mit den Kindern und Mitarbeite­rn unter einem Dach, half beim Aufbau eines neuen Management­teams und versuchte mit Streetwork­ern das Vertrauen von Straßenkin­dern zu erlangen.

Ob sie die Auszeit verändert hat? „Auf jeden Fall“, sagt Zierheim. Sie beschreibt die Zeit als ein „beiderseit­iges Geben und Nehmen“. Einerseits konnte sie vieles von dem, was sie in Deutschlan­d gelernt habe, vor Ort einbringen: managen, organisier­en, Kontakte pflegen. Anderersei­ts habe sie gelernt, dass die Dinge auch komplett anders laufen können. „Man kann auf ganz anderen Wegen Lösungen für Probleme finden“, sagt sie. Eine Bereicheru­ng, die sie mit nach Deutschlan­d genommen habe – auch in ihren Arbeitsall­tag. Vielleicht war es nicht ihr letzter Besuch in Kenia. Die Chancen stehen offen. Prinzipiel­l können Mitarbeite­r in ihrem Unternehme­n ein Sabbatical nehmen, so oft sie wollen. „Das erhöht die Attraktivi­tät“, sagt Hasenbank.

 ?? Fotos: Kenia Hilfe Schwäbisch­e Alb ?? Eintauchen in eine andere Welt: Marlene Zierheim engagierte sich während ihres Sabbatical­s drei Monate lang für ein Kinderhilf­sprojekt in Kenia. Sie verbrachte den Alltag mit Kindern, half beim Aufbau von Netzwerken und kümmerte sich um...
Fotos: Kenia Hilfe Schwäbisch­e Alb Eintauchen in eine andere Welt: Marlene Zierheim engagierte sich während ihres Sabbatical­s drei Monate lang für ein Kinderhilf­sprojekt in Kenia. Sie verbrachte den Alltag mit Kindern, half beim Aufbau von Netzwerken und kümmerte sich um...

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