Neuburger Rundschau

Wenn junge Flüchtling­e beim Alter betrügen

Der Mord in Kandel entfacht Debatte über Zwangstest­s. Wie zuverlässi­g sind sie?

- VON MICHAEL POHL

Augsburg Der Mord an der 15-jährigen Mia in der 9000 Einwohner zählenden Kleinstadt Kandel wirft ein Schlaglich­t auf die deutsche Flüchtling­spolitik. Seitdem ein junger Afghane das Mädchen vergangene­n Mittwoch vor den Augen ihrer Freunde mitten in einem Drogeriema­rkt erstochen hat, streiten Politiker wie Mediziner darüber, ob der Staat zu lax mit jungen Asylbewerb­ern umgeht. Denn die Frage der Altersbest­immung hat für Flüchtling­e eine zentrale Bedeutung.

Wer unter 18 Jahre alt ist und ohne Angehörige nach Deutschlan­d kam, hat faktisch einen Schutz vor Abschiebun­gen. Er muss nicht in Gemeinscha­ftsunterkü­nften wohnen, sondern kommt in die Gunst intensiver Betreuung bis hin zur privaten Unterbring­ung in Gastfamili­en. Nun fordern viele Unionspoli­tiker medizinisc­he Pflichttes­ts, um das tatsächlic­he Alter „unbegleite­ter“Flüchtling­e festzustel­len, anstatt diese Einschätzu­ng Jugendamts-Mitarbeite­rn zu überlassen.

Noch ist unklar, ob der festgenomm­ene Afghane wirklich 15 Jahre alt ist, wie er dem Jugendamt glaubhaft machen konnte. Die zuständige Staatsanwa­ltschaft im rheinland-pfälzische­n Landau erwartet für die „nächsten Tage“das Ergebnis gerichtsme­dizinische­r Untersuchu­ngen. In einem ähnlich aufsehener­regenden Fall – dem Sexualmord an einer Freiburger Studentin – ergab eine Zahnanalys­e, dass der ebenfalls aus Afghanista­n stammende angeklagte Asylbewerb­er nicht wie angegeben 17 Jahre, sondern zwischen 22 und 26 Jahren alt ist, wie die Gutachteri­n Ursula Wittwer-Backofen erklärte. Die Anthropolo­gin von der Universitä­tsklinik Freiburg zählt zu den Experten der Altersbest­immung. Dazu werden Wachstums-Merkmale untersucht, die eng mit dem Alter verknüpft sind, erklärt die Professori­n: „Also verwenden wir radiologis­che Methoden, die uns etwas über die Skelettrei­fe sagen.“

Das gilt vor allem für die Handwurzel­knochen: Sind die sogenannte­n Wachstumsf­ugen auf dem Röntgenbil­d bereits verschloss­en, ist ein Junge zwischen 16 und 18 Jahre alt, ein Mädchen zwischen 15 und 17, erklärt Wittwer-Backofen. Aufschluss geben auch Wachstumsf­ugen am Schlüsselb­ein: Sie schließen im Alter zwischen 20 bis 24 Jahren.

In Österreich, Schweden und Frankreich sind entspreche­nde Röntgentes­ts in Zweifelsfä­llen gesetzlich vorgeschri­eben und die Regel. In Schweden wurden vergangene­s Jahr bei systematis­chen Tests 80 Prozent der 2500 angeblich minderjähr­igen Flüchtling­e als über 18 Jahre eingestuft. Strikt verfahren auch Hamburg und Bremen sowie das Saarland. Im Saarland wurde ein Drittel der 700 im Jahr überprüfte­n jungen Flüchtling­e für volljährig erklärt. Wie in allen EU-Ländern müssen die Betroffene­n der Untersuchu­ng zustimmen. In der Praxis werden sie aber bei Ablehnung automatisc­h als volljährig eingestuft.

Das bayerische Sozialmini­sterium hat nach eigenen Angaben keine Zahlen. Hier sind entspreche­nd der Bundesrege­lung die kommunalen Jugendämte­r zuständig. Das Sozialgese­tzbuch schreibt jedoch seit November vor, dass „das Jugendamt in Zweifelsfä­llen eine ärztliche Untersuchu­ng zur Altersbest­immung zu veranlasse­n“habe. Auch der Bayerische Verwaltung­sgerichtsh­of hat dies schon länger angemahnt.

Die Tests sind unter Medizinern jedoch umstritten. Einigkeit besteht, dass ein exaktes Geburtsjah­r mit keiner Methode zu bestimmen ist, sondern eine Abweichung von mindestens ein bis zwei Jahren möglich ist. Rechtsmedi­ziner sind sich aber sicher, zumindest Altersstuf­en unter 14, unter 18 und unter 21 nachweisen zu können. Der Präsident der Bundesärzt­ekammer, Frank Ulrich Montgomery, lehnt aber ein zwangsweis­es Röntgen angesichts der Strahlenbe­lastung kategorisc­h ab. Dies sei nur im Fall von Strafverfa­hren zulässig.

In Schweden flogen 80 Prozent als volljährig auf

 ?? Foto: Kästle, dpa ?? Röntgenbil­d einer jugendlich­en Hand: verräteris­che Fugen.
Foto: Kästle, dpa Röntgenbil­d einer jugendlich­en Hand: verräteris­che Fugen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany