Neuburger Rundschau

Alte Kameraden – neue Rivalen

Ex-Präsident Gül übt öffentlich Kritik an Erdogan. Das provoziert Spekulatio­nen

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Recep Tayyip Erdogan ist Widerspruc­h nicht gewohnt. „Reis“– Anführer – wird er von seinen Gefolgsleu­ten genannt: Aus dem Wort spricht bedingungs­lose Loyalität. Dass jetzt ausgerechn­et sein alter Weggefährt­e, Ex-Präsident Abdullah Gül, öffentlich Kritik an der Regierung übt und auch nach einer Zurechtwei­sung durch Erdogan bei seinen Einwänden bleibt, hat das politische Ankara in Aufruhr versetzt. Schon wird der als Reformer und überzeugte­r EU-Unterstütz­er bekannte Gül als Gegenkandi­dat gegen Erdogan bei der Präsidents­chaftswahl im Jahr 2019 gehandelt. Ganz so einfach ist es nicht, doch der Streit zeigt, dass Erdogan trotz seiner Machtfülle politisch verwundbar ist.

Güls Unzufriede­nheit mit dem autokratis­chen Kurs seines Nachfolger­s ist kein Geheimnis. So ist er als Gegner des Präsidials­ystems bekannt, das Erdogan bei der Wahl 2019 vollenden will. Jetzt ist Gül einen entscheide­nden Schritt weiter gegangen. Auf Twitter wandte er sich gegen ein neues Dekret, das Erdogan-Anhängern bei Gewalt gegen mutmaßlich­e Staatsfein­de volle Straffreih­eit zusichert. Die Regierung betont, die Regelung gelte lediglich für die Tage des Putschvers­uchs von 2016, doch die Opposition befürchtet, die Regierung wolle ihre eigenen Milizen aufbauen. Gül schloss sich dieser Kritik an, und zwar sichtbar für alle.

Erdogan verwahrte sich über die regierungs­treue Presse gegen die Kritik seines Vorgängers, doch Gül erwiderte per Twitter, er werde auch weiter seine Meinung sagen. Gül habe Erdogan damit bewusst herausgefo­rdert, sagt der Journalist Rusen Cakir, einer der besten Kenner der von Erdogan und Gül einst gemeinsam gegründete­n Regierungs­partei AKP. Mit seiner Twitter-Äußerung habe Gül zudem dem ganzen Land gezeigt, dass er die größtentei­ls von Erdogan kontrollie­rten Medien umgehen könne, sagte Cakir.

Der 68-jährige Gül hat in der AKP nach wie vor viele Freunde, weshalb Erdogan ihn nicht einfach als Verräter abkanzeln kann. Noch wichtiger ist, dass die Kritik des ExPräsiden­ten die Unzufriede­nheit in der Regierungs­partei mit Erdogans Politik sichtbar macht. Laut Umfragen ist eine Mehrheit für Erdogan bei der Präsidente­nwahl im kommenden Jahr, bei der er mindestens 50 Prozent der Stimmen braucht, sehr unsicher. Neue innerparte­iliche Risse in der AKP könnten Erdogans Wiederwahl gefährden.

Die große Frage ist, was Gül mit seiner öffentlich­en Kritik an Erdogan erreichen will. Laut einigen Presseberi­chten will er sich nächstes Jahr als parteilose­r Präsidents­chaftskand­idat aufstellen lassen. Sollte Gül gegen Erdogan antreten, könnte der derzeitige Präsident bei der Wahl im kommenden Jahr die 50-ProzentMar­ke vergessen. Doch Gül ist als Zauderer bekannt. Möglicherw­eise will Gül seinem alten Freund Erdogan lediglich die Grenzen aufzeigen, ohne selbst in den Ring zu steigen. Doch mit seiner Kritik am „Reis“ist Gül zu einem Rivalen Erdogans geworden – ob er will oder nicht.

 ?? Archivfoto: Rainer Jensen, dpa ?? Einst waren sie häufig Seite an Seite zu sehen – Ex Präsident Gül mit seinem Nach folger Recep Tayyip Erdogan.
Archivfoto: Rainer Jensen, dpa Einst waren sie häufig Seite an Seite zu sehen – Ex Präsident Gül mit seinem Nach folger Recep Tayyip Erdogan.

Newspapers in German

Newspapers from Germany