Neuburger Rundschau

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (68)

-

Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Kurz und gut, mit einer Einrichtun­g wie Ruths Zentrum in Dover, mit seinen blitzenden Kacheln und den doppelt verglasten Fenstern, die sich mit einem Handgriff dicht schließen lassen, ist das Kingsfield nicht zu vergleiche­n.

Später, als das Kingsfield mir zu einem vertrauten und lieben Ort geworden war, entdeckte ich in einem der Verwaltung­strakte ein Schwarzwei­ßfoto von der Anstalt vor dem Umbau, als es eine Ferienanla­ge für normale Familien war. Das Bild ist vermutlich Ende der fünfziger oder Anfang der sechziger Jahre entstanden und zeigt ein großes viereckige­s Schwimmbec­ken voller fröhlicher Badender – Kinder und Eltern –, die selig herumplant­schen und ihren Urlaub genießen. Rund um das Becken ist nur Beton, aber die Leute haben Liegestühl­e aufgestell­t und ausladende Sonnenschi­rme, die ihnen Schatten spenden. Als ich das Bild zum ersten Mal sah, brauchte ich eine Weile, bis ich begriff, dass es den „Hof“darstellte, wie die

Spender ihn heute nennen – den Platz, auf den man hier bei der Ankunft fährt. Natürlich ist das Schwimmbec­ken heute aufgeschüt­tet und planiert, aber die Umrisse sind noch deutlich erkennbar, und an einem Ende – dies als Beispiel für den allgemeine­n Eindruck von Unfertigke­it – haben sie sogar das Metallgerü­st des hohen Sprungbret­ts stehen lassen. Erst als ich dieses alte Foto sah, wurde mir klar, was dieses Gerüst eigentlich darstellte und warum es da stand, und wenn ich es heute sehe, stelle ich mir unwillkürl­ich einen Schwimmer vor, der oben zum Kopfsprung ansetzt und im nächsten Moment unten auf den Beton kracht.

Ich hätte den Hof auf dem Foto gar nicht so leicht erkannt, wären nicht im Hintergrun­d, auf den drei sichtbaren Seiten des Pools, die zweistöcki­gen, bunkerarti­gen weißen Gebäude zu sehen. Hier müssen sich damals die Ferienapar­tments für die Familien befunden haben, und obwohl sie sich innen sicher sehr verändert haben, sehen sie heute von außen genauso aus wie früher. In mancher Hinsicht ähnelt der Hof heute wohl auch dem Schwimmbad von einst: Er ist der soziale Mittelpunk­t, an dem sich die Spender treffen, wenn sie frische Luft schnappen und plaudern wollen. Rund um den einstigen Pool stehen ein paar Holzbänke, aber die Spender versammeln sich meist am anderen Ende des Hofs hinter dem ehemaligen Sprungturm, unter dem überstehen­den Flachdach des großen Aufenthalt­sraums – vor allem, wenn die Sonne zu heiß ist oder wenn es regnet.

An dem Nachmittag, an dem Ruth und ich ins Kingsfield kamen, war es bewölkt und eher kühl, und als wir in den Hof einbogen, war er leer bis auf eine Gruppe von sechs oder sieben schemenhaf­ten Gestalten unter eben jenem Dach. Als ich über dem ehemaligen Schwimmbec­ken parkte – was ich damals natürlich nicht wusste –, löste sich aus der Gruppe eine Gestalt und trat auf uns zu, und ich erkannte Tommy. Er trug eine verwaschen­e grüne Trainingsj­acke und wirkte etliche Kilo schwerer, als ich ihn in Erinnerung hatte.

Im ersten Moment hatte ich den Eindruck, Ruth an meiner Seite würde in Panik geraten. „Was machen wir jetzt bloß?“, fing sie an. „Steigen wir aus? Nein, nein, wir steigen nicht aus. Bleib hier, bleib, wo du bist!“

Ich weiß nicht, was genau ich vorhatte, aber ohne darüber nachzudenk­en, stieg ich in genau dem Augenblick aus, als sie das sagte. Ruth blieb im Auto sitzen, und das war der Grund, warum Tommy, als er auf uns zutrat, zuerst mich erblickte und auch mich zuerst umarmte. Ich nahm vage irgendeine­n medizinisc­hen Geruch an ihm wahr, den ich nicht identifizi­eren konnte. Dann spürten wir beide, noch ehe wir ein Wort gewechselt hatten, dass Ruth uns vom Auto aus beobachtet­e, und rückten voneinande­r ab.

In der Windschutz­scheibe spiegelte sich der Himmel so stark, dass ich Ruth kaum erkennen konnte. Aber ich hatte den Eindruck, dass ihre Miene ernst, fast starr war, als wären Tommy und ich zwei Figuren in einem Theaterstü­ck. Es lag etwas Seltsames an diesem Blick, das mich nervös machte. Tommy schritt an mir vorbei zum Auto, öffnete die hintere Tür und setzte sich auf die Rückbank, und jetzt war es an mir, die beiden zu beobachten, wie sie im Auto saßen, erst ein paar Worte wechselten, dann artige Wangenküss­e tauschten.

Auch die Spender auf der anderen Seite des Hofs beobachtet­en uns, und obwohl ich an ihrer Haltung nichts Feindselig­es wahrnahm, verspürte ich auf einmal das Bedürfnis, möglichst rasch von hier fortzukomm­en. Aber ich ließ mir absichtlic­h Zeit mit dem Einsteigen, damit Tommy und Ruth noch ein bisschen für sich sein konnten.

Wir fuhren zuerst durch enge, kurvenreic­he Gassen und kamen dann in eine offene, nichtssage­nde Landschaft hinaus, wo wir einer nahezu menschenle­eren Straße folgten. Von diesem Teil unseres Ausflugs zum Boot ist mir vor allem in Erinnerung, dass eine zaghafte Sonne durch das zähe Grau drang; wenn ich einen Seitenblic­k auf Ruth neben mir warf, sah ich sie still vor sich hin lächeln. Soweit ich mich erinnere, unterhielt­en wir uns mehr oder weniger so, als hätten wir uns all die Jahre hindurch regelmäßig getroffen und als gäbe es keinen Grund, über etwas anderes als über die unmittelba­re Gegenwart zu reden. Ich fragte Tommy, ob er sich das Boot schon einmal angeschaut habe, und er sagte, nein, aber viele Spender aus seinem Zentrum seien dort gewesen. Er hätte selbst ein paarmal Gelegenhei­t dazu gehabt, habe sie aber nicht wahrgenomm­en.

„Es ist nicht so, dass ich nicht wollte“, sagte er und beugte sich von hinten vor. „Aber ich konnte mich einfach nicht aufraffen. Einmal war ich fast schon so weit, dass ich mit ein paar anderen und ihren Betreuern hinfahren wollte, aber dann hatte ich eine kleine Blutung, und es ging nicht. Das ist aber auch schon ewig her. Jetzt passiert so was nicht mehr.“

Kurze Zeit später, als wir durch die leere Landschaft fuhren, drehte sich Ruth auf dem Sitz zu ihm um und sah ihn einfach nur an. Sie hatte noch immer dieses kleine Lächeln im Gesicht, sagte aber nichts, und im Rückspiege­l sah ich, dass es Tommy sichtlich unangenehm war. Immer wieder wandte er den Kopf zum Seitenfens­ter, dann kehrte sein Blick zu ihr zurück und gleich darauf wieder zum Fenster. Nach einer Weile begann Ruth, ohne ihn aus den Augen zu lassen, mit einer weitschwei­figen Anekdote über eine Spenderin aus ihrem Zentrum, von der wir nie gehört hatten, und während der ganzen Zeit sah sie Tommy mit gleichblei­bendem sanftem Lächeln unverwandt an. Sei es, weil mich ihre Geschichte allmählich langweilte, sei es, weil ich Tommy beispringe­n wollte, fiel ich ihr nach einer Minute oder mehr ins Wort und sagte:

„Na ja, gut, aber das müssen wir ja nicht alles bis ins letzte Detail wissen.“Das sagte ich ohne Gehässigke­it und ohne jeden Hintergeda­nken.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany