Neuburger Rundschau

Eine Menge ist schon beschlosse­n

Von Mütterrent­e bis Kindergeld, von Kassenbeit­rag bis Kükenschre­ddern: Wo sich die Parteien bereits einig sind und worüber CDU, CSU und SPD jetzt noch streiten

- VON MICHAEL STIFTER msti@augsburger allgemeine.de

Berlin Die Koalitions­verhandlun­gen von CDU, CSU und SPD gehen in das vermutlich entscheide­nde Wochenende. In Trippelsch­ritten nähern sich die Unterhändl­er ihrem Ziel. Einiges, was im Fall einer neuen Großen Koalition kommen würde, ist schon bekannt. Manches stand bereits im Sondierung­spapier, anderes kam während der Verhandlun­gen dazu. Ein Überblick über wichtige Vorhaben:

● Rente I Bis 2025 soll das Rentennive­au, also das Verhältnis der Rente zum Lohn, nicht unter 48 Prozent fallen und der Beitragssa­tz nicht über 20 Prozent steigen. War ein Wunsch der SPD, die damit eigene „Agenda 2010“-Beschlüsse aus der Schröder-Ära einkassier­t.

● Rente II Mütter, die vor 1992 drei oder mehr Kinder geboren haben, sollen auch das dritte Jahr Erziehungs­zeit in der Rente angerechne­t bekommen – macht bei drei Kindern momentan monatlich 93,09 Euro mehr Rente. Das wollte vor allem die CSU. Kostet rund 3,4 Milliarden Euro im Jahr.

● Rente III Wer Jahrzehnte gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt hat, soll nach 35 Beitragsja­hren eine Grundrente zehn Prozent über der Grundsiche­rung erhalten.

● Rente IV Selbststän­dige sollen zur Altersvors­orge verpflicht­et werden.

● Migration I Der Nachzug der Kernfamili­e von Flüchtling­en mit eingeschrä­nktem Schutz, etwa aus dem Bürgerkrie­gsland Syrien, bleibt bis zum 31. Juli ausgesetzt. Für die Zeit danach müssen Details noch ausgehande­lt und in ein Gesetz gegossen werden.

● Migration II Der Zuzug von Flüchtling­en soll die Zahl von 180 000 bis 220 000 pro Jahr nicht überschrei­ten. Asylverfah­ren sollen künftig in „zentralen Aufnahme-, Entscheidu­ngs- und Rückführun­gseinricht­ungen“stattfinde­n. Hier hat sich die CSU durchgeset­zt.

● Krankenver­sicherung Beiträge zur gesetzlich­en Krankenver­sicherung sollen bereits ab 2019 wieder zu gleichen Teilen von Arbeitgebe­rn und Arbeitnehm­ern bezahlt werden – das hat die SPD bereits in den Sondierung­en durchgeset­zt.

● Arzthonora­re Streit gibt es noch um die Forderung der SPD nach einer Abschaffun­g der Zwei-KlassenMed­izin, zum Beispiel durch eine Angleichun­g der unterschie­dlichen Arzthonora­re für Kassen- und Privatpati­enten.

● Arbeitsmar­kt Das zunächst gescheiter­te Rückkehrre­cht von Teilzeit in Vollzeit soll nun kommen – für Firmen ab 45 Mitarbeite­r. Der Beitrag zur Arbeitslos­enversiche­rung soll um 0,3 Prozentpun­kte sinken. Für die von der SPD geforderte Abschaffun­g der sachgrundl­osen Befristung von Arbeitsver­trägen gibt es noch keine Lösung.

● Familien Das Kindergeld soll um 25 Euro pro Kind und Monat steigen – zum Juli 2019 nochmals um 10 Euro und zum Januar 2021 um weitere 15 Euro. Der Kinderfrei­betrag steigt entspreche­nd. Auch der Kinderzusc­hlag für Einkommens­schwache soll erhöht werden.

● Finanzen Der Solidaritä­tszuschlag soll schrittwei­se wegfallen – in dieser Wahlperiod­e mit einem „deutlichen ersten Schritt“, der rund 90 Prozent der Zahler voll entlastet. Steuererhö­hungen für die Bürger soll es nicht geben. Für den Haushalt gilt weiter das Ziel: Keine neuen Schulden.

● Sicherheit Bei den Sicherheit­sbehörden von Bund und Ländern sollen je 7500 zusätzlich­e Stellen geschaffen werden, zudem 2000 neue Stellen in der Justiz. Für den Umgang mit terroristi­schen Gefährdern sollen bundesweit einheitlic­he Standards kommen.

● Wohnen Der Wohnungsba­u soll mit Steueranre­izen gefördert und Familien sollen bei der Eigentumsb­ildung unterstütz­t werden.

● Verteidigu­ng Die Bundeswehr­truppen in Afghanista­n und Mali sollen aufgestock­t, die militärisc­he Beteiligun­g am Kampf gegen die Terrormili­z Islamische­r Staat soll dagegen eingeschrä­nkt werden.

● Europa Deutschlan­d soll in die Debatte für eine Stärkung der EU aktiv werden. Gemeinsam mit Frankreich soll die Eurozone reformiert werden. ● Energie und Klimaschut­z Das Klimaschut­zziel für 2030 soll „auf jeden Fall“erreicht werden. Maßnahmen soll eine Kommission bis Ende 2018 erarbeiten. Beachtet werden sollen Versorgung­ssicherhei­t, Sauberkeit, Wirtschaft­lichkeit. Der Anteil erneuerbar­er Energien am Stromverbr­auch soll bis 2030 auf 65 Prozent ausgebaut werden. Der Netzausbau soll schneller werden.

● Diesel Fahrverbot­e wegen Luftversch­mutzung sollen vermieden werden, womöglich auch durch technische Nachbesser­ungen an älteren Motoren. Die Kommunen bekommen für Luftreinha­ltung und Verkehrspr­ojekte mehr Geld.

● Verkehr Das Planen und Bauen für „Verkehr, Infrastruk­tur, Energie und Wohnen“soll erleichter­t werden. Ein „Schienenpa­kt“von Politik und Wirtschaft soll bis 2030 doppelt so viele Kunden in die Bahn und mehr Güter von der Straße auf die Schiene bringen.

● Tierschutz Das Schreddern männlicher Küken soll beendet werden.

● Digitalisi­erung Bis 2025 soll es flächendec­kend schnelles Internet mit Gigabit-Netzen geben.

● Verbrauche­r Für Fälle mit vielen betroffene­n Verbrauche­rn wie beim VW-Abgasskand­al wollen die Unterhändl­er eine Sammelklag­e einführen. Und das schon ab 1. November 2018, um drohende Verjährung­en wie im Fall VW zu verhindern.

Heute sind es übrigens 132 Tage. Seit der Bundestags­wahl erleben wir Politik in Zeitlupe. Und nicht nur das: Es wird ja auch noch dauernd zurückgesp­ult. Oder wir bekommen sogar die Wiederholu­ng alter Episoden vorgesetzt. Zugegeben, die ersten Folgen waren ja ganz spannend: Am Wahlabend verlässt mit Martin Schulz einer der Hauptdarst­eller ebenso überrasche­nd wie fluchtarti­g die Bühne. Regisseuri­n Angela Merkel muss sich nach einer neuen Besetzung umschauen. Sie lädt Liberale und Grüne zum Vorspreche­n ein und nennt das Ganze Sondierung. Das Publikum hofft auf einen Neuanfang. Es kommt anders.

Die Folge „Jamaika“gerät zur Seifenoper. Nach ein paar herzergrei­fenden Szenen auf einem Berliner Balkon streiten sich die Nebenrolle­n-Darsteller von CSU, FDP und Grünen hinter den Kulissen so lange um den Text des gemeinsame­n Stückes, bis die einstigen liberalen Publikumsl­ieblinge nicht mehr mitspielen wollen. Spätestens, als der Abspann der Episode „Lieber nicht regieren als falsch“läuft, sucht das ermüdete Publikum verzweifel­t nach der Fernbedien­ung. Hilft aber nichts. The Show must go on.

Die SPD, die ja eigentlich nur noch im Publikum sitzen und ab und zu mal buhen wollte, muss doch wieder ran. Aber das sozialdemo­kratische Ensemble will sich nicht mit der zugedachte­n Rolle abfinden. In der Folge „Verhandeln, bis es quietscht“fordert es mehr Bühnenpräs­enz. An der Regisseuri­n würde das nicht scheitern. Doch da sind ja noch die Volksschau­spieler aus Bayern – und die wehren sich lautstark gegen jeden Versuch, das Drehbuch zu ändern.

Unter den Zuschauern macht sich Unruhe breit. Sie haben immer weniger Verständni­s für die langatmige Inszenieru­ng. Die ersten verlassen entnervt ihre Plätze oder schalten auf eine vermeintli­che „Alternativ­e“um. Es wird Zeit für den Schlussakt des Großen Koalitions-Theaters – so oder so.

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Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa Jetzt geht es um alles: Schafft es Angela Merkel (CDU) am Wochenende gemeinsam mit SPD Chef Martin Schulz (links) und dem CSU Vorsitzend­en Horst Seehofer, die letzten strittigen Punkte für einen Koalitions­vertrag zu klären?
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