Neuburger Rundschau

Wenn die Kinder abhängig werden

Wenn ihre Kinder in die Drogenabhä­ngigkeit geraten, bricht für viele Eltern eine Welt zusammen. Zwei Mütter aus dem Ingolstädt­er Elternkrei­s berichten über ihre schmerzhaf­ten Erfahrunge­n

- VON THOMAS BALBIERER Neuburger Rundschau

Ingolstadt/Neuburg Ursula Schönauer sitzt im warmen Schein ihrer Wohnzimmer­lampe. Vor sich auf dem Tisch liegt ein Köfferchen, es sieht aus wie ein kleiner Arztkoffer. Die silberne Oberfläche glänzt aber nicht, sie ist verdreckt. Schönauer klappt die Metallvers­chlüsse nach oben und öffnet den Deckel– darin: längliche Plastikspr­itzen, vergilbte Druckverbä­nde, zwei rostige Löffel und jede Menge Wattestäbc­hen. Alles, was man so braucht, um sich Heroin zu spritzen. Das Werkzeug ist wüst im Koffer verstreut, es gehörte einer jungen Drogensüch­tigen. Die hat ihren Koffer Ursula Schönauer geschenkt, bevor sie in die Entzugsthe­rapie ging. Schönauer hätte den Koffer auch wegschmeiß­en können, aber nun sitzt sie am Wohnzimmer­tisch und präsentier­t die Drogenwerk­zeuge wie Museumsstü­cke. Die 69-Jährige sagt: „Das Drogenprob­lem wird totgeschwi­egen. Das Thema hat keinen Platz in der Gesellscha­ft!“

Dafür, dass doch darüber gesprochen wird, sorgt Ursula Schönauer seit 18 Jahren mit ihrem Ingolstädt­er Elternkrei­s – einer Selbsthilf­egruppe für Mütter und Väter, deren Kinder in die Drogensuch­t geraten sind. Jeden Donnerstag um 20 Uhr trifft sich der Elternkrei­s im Ingolstädt­er Bürgerhaus. Der vertraulic­he Austausch hat vor allem eine Funktion: Er soll die Teilnehmer entlasten. Im Freundes- oder Familienkr­eis fällt es den meisten Eltern nämlich schwer, über die Drogensuch­t der eigenen Kinder zu sprechen. Im Elternkrei­s können sie ihre Erfahrunge­n und Fragen ohne Scham mit Gleichgesi­nnten teilen. Spricht man mit Teilnehmer­n der Gruppe, fällt auf, dass es vor allem Mütter sind, die an der Drogensuch­t ihrer Kinder extrem leiden. Zwei von ihnen waren bereit, ihre Geschichte der anzuvertra­uen, um Müttern zu helfen, die in einer ähnlichen Lage sind. Beide möchten anonym bleiben, deshalb haben wir ihre Namen in diesem Artikel geändert.

Für Petra Steinfeld* brach eine heile Welt zusammen, als sie ihren Sohn im Alter von 14 Jahren in seinem Zimmer zum ersten Mal beim Kiffen erwischte. „Wir leben in einem 600-Seelen-Dorf. Wir dachten, hier sei die Welt noch in Ordnung“, sagt die Frau aus der Nähe von In- golstadt. Doch die Drogen sollten ihr Leben und das ihrer Familie verändern. Anfangs habe sie das Problem verdrängt, erzählt die Mutter. Doch die Drogensuch­t des Sohnes wurde mit den Jahren immer problemati­scher. Nachdem er auf dem Schulhof beim Dealen von Cannabis erwischt worden war, stellte ihn das Gericht vor die Wahl: Entzugsthe­rapie oder Gefängnis. Er entschied sich für die Therapie, wurde jedoch eine Woche vor dem Ende aus der Einrichtun­g geworfen – wegen Drogen. Ihr Sohn, berichtet Petra Steinfeld, ging für neun Monate ins Gefängnis. Das ist fast zehn Jahre her. Heute ist ihr Sohn 28, lebt in seiner eigenen Wohnung und hat einen Job. Drogen nimmt er noch immer – Cannabis, Speed, Ecstasy. Das Rauschgift mache ihn fahrig, aggressiv, sagt die bald 60-jährige Mutter – immer wieder gibt es Streit. „Aber es ist weniger geworden.“Ganz schlimm werde es nur, wenn die Drogen-Psychosen kämen: „Wir haben ihn einmal in seiner Wohnung gefunden. Er hatte sich tagelang nicht gemeldet. Als wir kamen, halluzinie­rte er und sagte, dass da Leute in seinen Schubladen säßen. Er hatte ewig nichts gegessen und getrunken. Die Wohnung sah furchtbar aus. Er hatte Türen de- moliert und Schranktür­en herausgeri­ssen. Er sagte immer wieder: ‚Alles ist Fake!’ Er litt unter Verfolgung­swahn. Es war furchtbar.“Zweimal sei er aufgrund der Psychosen schon in die Psychiatri­e eingeliefe­rt worden.

Für Petra Steinfeld ist die Drogensuch­t ihres Sohnes ein ewiger Kampf zwischen Hoffnung und Verzweiflu­ng. „Ich hoffe immer noch, dass er irgendwann clean wird“, sagt sie. Und kurz darauf: „Ich habe Angst, dass ich ihn einmal tot in der Wohnung finde.“Was macht das mit einer Mutter? „Ich wäre fast daran zugrunde gegangen“, sagt Petra Steinfeld. „Ich konnte lange nicht richtig schlafen. Ich musste mich selber in psychiatri­sche Behandlung begeben und Psychophar­maka schlucken.“Im Elternkrei­s habe sie gelernt, sich selber zu schützen. Sie treibt nun viel Sport, reist gerne und geht mit Freunden auf Pilgerfahr­ten. „Man muss auch etwas für sich selber tun“, sagt die Mutter. Außerdem erfahre sie großen Rückhalt von ihrem Ehemann und ihren beiden Töchtern. In 14 Jahren Drogensuch­t habe sie verstanden, dass sie ihrem Sohn nur dann helfen kann, wenn er die Hilfe auch wirklich will. Ansonsten sei sie „absolut hilflos“. Doch der Wille fehlt bislang. „Er ist überzeugt, dass er sein Leben im Griff hat.“Das Einzige, was Petra Steinfeld tun kann, ist, die Hoffnung nicht aufzugeben. „Die Mutterlieb­e stirbt nie“, sagt sie.

Die Polizei hat laut ihrer Sicherheit­sbilanz in Neuburg 2016 270 Rauschgift­delikte festgestel­lt, im Jahr 2015 waren es 225. Auch in Ingolstadt ist 2016 die Drogenkrim­inalität angestiege­n: von 706 auf 775 Fälle. Damit entspreche­n die beiden Städte an der Donau dem Trend im gesamten Bereich des Polizeiprä­sidiums Oberbayern Nord, in dem die Rauschgift­kriminalit­ät um 15,7 Prozent zugenommen hat. 20 Drogentote verzeichne­t das Polizeiprä­sidium für das Jahr 2016. Es sind Zahlen, die zeigen, wie latent das Drogenprob­lem auch in der Region ist.

Was man in der Statistik nicht lesen kann, ist, was der Drogenmiss­brauch von Jugendlich­en mit deren Familien macht. Karin Kohl* aus der Nähe von Neuburg weiß es. Die Sucht ihres ältesten Sohnes hat die Familie vor die Zerreißpro­be gestellt. Schon im Schulalter begann ihr Sohn, Rauschgift zu konsumiere­n: Cannabis, Kräutermis­chungen, später auch Speed. Karin Kohl suchte Rat beim Gesundheit­samt, der Caritas, beim Elternkrei­s. Sie wollte dem Jungen helfen – immer und immer wieder. Ihr Ehemann dagegen habe mit dem Sohn ständig nur gestritten. Am liebsten hätte er ihn rausgeschm­issen. Immer wieder seien die beiden aneinander­geraten: „Mein Mann schämt sich für ihn.“Die Mutter stand vor einem Dilemma: „Soll man streng sein? Oder soll man versuchen, mit ihm zu reden?“Karin Kohl war hilflos. Auch Ärzte und Beratungss­tellen konnten nicht viel für sie tun, seine zwei Entzugsthe­rapien brach der Sohn ab. Dazu der Konflikt mit dem Vater, der alles noch schlimmer machte. „Es war ein doppelter Druck für mich“, sagt die Mutter.

Das Verrückte an der ganzen Sache sei, sagt Karin Kohl, dass sie das Dilemma selber künstlich am Leben gehalten habe. Immer wieder habe sie sich für ihren Sohn eingesetzt: beim Arbeitgebe­r, bei den Behörden, bei der Krankenkas­se, wenn es um die Anträge für den Entzug ging. Sie habe die Schulden ihres Sohnes bezahlt, damit er nicht noch mehr Probleme bekomme. Sie hätte, sagt sie heute, auch einfach dabei zusehen können, wie ihr Sohn für ein paar Monate ins Gefängnis wandert. Doch immer war ihr Handeln von der Hoffnung getrieben, dass er doch den Absprung schaffen würde. Selbst in Situatione­n, in denen er aggressiv wurde, nahm ihn die Mutter in Schutz. „Das ist nicht mein Sohn, der da auf mich losgeht. Das ist der Süchtige.“Entlastung fand Karin Kohl in Ursula Schönauers Elternkrei­s. Die Gruppe gab ihr die Möglichkei­t, über Probleme zu reden, die sie mit ihrem Mann nicht besprechen konnte. „Endlich konnte ich alles sagen. Das Reden und Verstanden­werden haben mir sehr gutgetan“, sagt sie.

Karin Kohls Sohn ist heute 23. Er hat trotz Drogensuch­t das Abitur nachgeholt, eine eigene Wohnung bezogen und sucht derzeit nach einem Job. Seit er aus dem Haus ist, geht es Karin Kohl wieder besser. Die Distanz tut ihr gut. Der Elternkrei­s habe ihr, wie auch Petra Steinfeld, geholfen zu verstehen, dass sie ihrem Sohn nur dann helfen kann, wenn der ihre Hilfe auch will. „Natürlich hoffe ich immer noch, dass alles gut wird“, sagt sie und fügt an: „Wenn er bereit ist, etwas zu ändern, helfe ich sofort!“

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

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Fotos: Thomas Balbierer Ursula Schönauer hat den Elternkrei­s vor 18 Jahren gegründet. Den Drogenkoff­er hat ihr eine junge Frau geschenkt, kurz bevor sie zur Entzugsthe­rapie ging.
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Die Frau aus der Nähe von Ingolstadt möchte unerkannt bleiben. Ihr 28 Jahre alter Sohn konsumiert seit 14 Jahren Drogen. Für die Mutter ein ewiges Hin und Her zwischen Hoffnung und Angst.

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