Wenn es mal zu bunt wird
Der Grantler traut seinen Augen nicht – hat doch tatsächlich jemand sein geliebtes Grantlereck am Bücherturm „verschönert“: Der Stein schimmert bunt wie ein Regenbogen. Der Mann rauft sein graues Haar und runzelt die faltige Stirn. Er weiß nicht so recht, was er davon halten soll. Überhaupt hat er das Gefühl, die Welt wird immer bunter: Geschlechter, Sprachen, Hautfarben – früher war alles einfacher.
Es gab schwarz und weiß, das war’s. Über die Jahre hat er nicht nur das Farbfernsehen kommen sehen, inzwischen flimmert darin sogar 50 Shades of Grey über den Bildschirm. Wenn sich schon die Unterschiede zwischen schwarz und weiß auflösen, wie soll man sich dann erst in der Welt der Farben zurechtfinden? Und zu allem Überfluss wechselt jetzt auch noch das Grantlereck sein Kleid. Jahrzehnte war es eine Konstante, ein Fels in der Brandung, ein Rettungsanker in einer Welt, mit der der Mann gefühlt schon längst nicht mehr Schritt halten konnte.
Mit einer Mischung aus Verachtung und Wehmut blickte er aus einigen Metern Entfernung auf den Stein, da begann es zu tröpfeln. Hektisch packten am nahegelegenen Spielplatz die Mütter mit ihren Kindern ihre Sachen und machten sich auf den Heimweg. Vorbei am Grantler, vorbei am Grantlereck. Der heftiger werdende Regen traf den Stein, die Farben flossen in schillernden Schlieren die raue Oberfläche hinab. Ein Mädchen mit braunen Locken riss sich von der Hand ihrer Mutter los, rannte zum Stein und kniete nieder. Tränen liefen ihre Wangen herab.
In gebrochenem Deutsch bat die Mutter den älteren Herrn um Entschuldigung für das ruppige Verhalten ihrer Tochter. Dort, von wo sie kämen, gäbe es längst keine Farben mehr. Nur noch Schutt und Asche. Deshalb habe ihre Tochter mit bunter Kreide den Stein bemalt. Der Grantler fühlte sich an seine Kindheit erinnert. War es nicht ein Amerikaner, der ihm damals, im zerstörten Nachkriegsdeutschland das erste Stück grüne Kreide schenkte? Doch, jetzt erinnert er sich. Wie einen Schatz behütete er den gepressten Kalkbrocken, der mit jeder Blume, die er damit auf die kaputten Straßen zauberte, kleiner wurde. Während der nächste Regen seine Bilder mitnahm, hatte er ein kleines Stück der Kreide von damals bis heute stets bei sich getragen.
Als der Grantler erneut auf den Stein blickte, hatte der Regen fast die komplette Farbe abgewaschen. Er ging zu dem Mädchen, holte ein viereckiges Päckchen aus seiner Manteltasche und reichte es ihr. Sie faltete es vorsichtig auf. Und präsentierte ihrer Mutter mit strahlenden Augen ihren neuen, bunten Schatz.