Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (87)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Kapitel 23
In der ersten Woche nach dieser Fahrt schien alles beim Alten zu sein. Ich rechnete aber nicht damit, dass es so bliebe, und tatsächlich begann ich Anfang Oktober kleine Veränderungen zu bemerken. Es begann damit, dass Tommy seine Tierbilder zwar nicht aufgab, aber nicht mehr in meiner Gegenwart daran arbeiten wollte. Zwar war es nicht so wie in der ersten Zeit, nachdem ich seine Betreuerin geworden war und noch all die unerledigten Geschichten über uns schwebten, aber es kam mir so vor, als hätte er darüber nachgedacht und dann eine Entscheidung getroffen: weiterhin Tiere zu zeichnen, wenn ihm der Sinn danach stand, aber damit aufzuhören und die Zeichnungen wegzuräumen, sobald ich hereinkäme. Nicht, dass es mich besonders gekränkt hätte. Eigentlich war es sogar eine Erleichterung: Diese Tiere, die uns entgegenstarrten, wenn wir zusammen
waren, hätten alles nur noch peinlicher gemacht.
Aber es gab andere Veränderungen, die ich weniger leicht zu ertragen fand. Damit will ich nicht behaupten, wir hätten keine schönen Erlebnisse mehr miteinander gehabt, oben in seinem Zimmer. Ab und zu schliefen wir sogar noch miteinander. Aber vor einem konnte ich nicht die Augen verschließen: dass Tommy mehr und mehr dazu neigte, sich mit den anderen Spendern in seinem Zentrum zu identifizieren. Wenn wir zum Beispiel an Leute aus Hailsham zurückdachten, brachte er früher oder später unweigerlich das Gespräch auf einen seiner gegenwärtigen Freunde, einen Spender, der vielleicht etwas Ähnliches gesagt oder getan hatte wie die Person, von der wir gesprochen hatten. Ein solches Erlebnis ist mir besonders im Gedächtnis geblieben; das war, als ich nach einer langen Fahrt im Kingsfield eintraf und aus dem Auto stieg und der Hof mehr oder weniger so aussah wie damals, als ich mit Ruth hierher gefahren war und wir das Boot besichtigt hatten. Es war ein bewölkter Herbstnachmittag, und der Hof war leer bis auf eine Gruppe von Spendern, die unter dem überstehenden Dach des Aufenthaltsraums zusammenstanden. Ich sah Tommy bei ihnen stehen – er lehnte mit der Schulter an einer Säule und hörte einem Spender zu, der auf den Eingangsstufen saß und etwas erzählte. Ich ging ein Stück auf sie zu, blieb dann aber stehen und wartete, mitten im Hof, unter dem grauen Himmel. Tommy, der mich längst bemerkt hatte, verharrte, wo er war, und hörte sich die Geschichte, die sein Freund erzählte, zu Ende an, bis sie schließlich alle in Gelächter ausbrachen. Später sagte er, er habe mich herbeigewinkt, aber wenn das stimmen sollte, so war es nicht sehr auffällig gewesen. Ich hatte nur wahrgenommen, dass er unbestimmt in meine Richtung lächelte und sich gleich darauf wieder dem Erzähler zuwandte. Okay, er war mitten in einer Geschichte, und nach einer kurzen Zeit trennte er sich von den anderen, und wir gingen zusammen in sein Zimmer hinauf. Aber so etwas wäre früher niemals geschehen. Und es war nicht nur, dass er mich im Hof stehen und warten ließ – das hätte mir nicht so viel ausgemacht. Vielmehr spürte ich an diesem Tag zum ersten Mal so etwas wie Unwillen bei ihm, dass er jetzt mit mir weggehen musste, und tatsächlich war die Stimmung nicht besonders gut, als wir dann oben in seinem Zimmer waren.
Der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass ich daran ebenso viel Schuld trug wie er. Denn während ich dort stand und sie miteinander reden und lachen sah, verspürte ich einen unerwarteten kleinen Stich; denn etwas an der Art, wie diese Spender sich mehr oder weniger im Halbkreis verteilt hatten, etwas an ihrer Körperhaltung, die, ob sie standen oder saßen, fast geflissentlich lässig war – wie um der Welt mitzuteilen, wie wohl sie sich miteinander fühlten –, erinnerte mich daran, wie sich einst unsere kleine Gruppe im Pavillon verteilt hatte. Dieser Vergleich war es, der mir den Stich versetzte, und vielleicht war ich deshalb oben in seinem Zimmer genauso einsilbig wie er.
Einen ähnlichen kleinen Anflug von Missmut empfand ich jedesmal, wenn er sagte, ich könne dies oder jenes nicht verstehen, weil ich noch keine Spenderin sei. Es war allerdings nie mehr als ein kleiner Anflug – bis auf einmal, von dem ich gleich berichten werde –, zumal er mir solche Vorhaltungen meist halb im Scherz machte, fast liebevoll. Und auch wenn es ihm ernst damit war – einmal zum Beispiel sagte er, ich solle nicht immer seine Schmutzwäsche in die Wäscherei bringen, das könne er allein –, kam es darüber nicht zum Streit.
Ich hatte ihn gefragt: „Was macht es für einen Unterschied, wer von uns die Handtücher runterbringt? Für mich liegt es sowieso auf dem Weg.“Woraufhin er den Kopf geschüttelt und gesagt hatte: „Schau, Kath, ich kümmere mich selbst um meinen Kram. Wärst du eine Spenderin, würdest du das verstehen.“
Es nagte an mir, ich gebe es zu, dennoch konnte ich es leicht wieder vergessen. Aber wie ich schon sagte, einmal, als er wieder damit ankam, ich sei eben keine Spenderin, packte mich wirklich der Zorn.
Es war etwa eine Woche, nachdem die Benachrichtigung für seine vierte Spende eingetroffen war. Wir hatten sie erwartet und auch schon oft und ausgiebig darüber gesprochen, tatsächlich hatten sich manche unserer intimsten Gespräche seit der Fahrt nach Littlehampton um die vierte Spende gedreht. Meiner Erfahrung nach reagieren Spender auf die vierte Spende sehr unterschiedlich.
Manche wollen die ganze Zeit darüber reden, endlos und sinnlos. Andere reißen nur Witze, und wieder andere lehnen es ab, sich überhaupt damit zu befassen. Und dann gibt es diese merkwürdige Tendenz bei Spendern, eine vierte Spende als etwas Lobenswertes zu betrachten, eine Leistung, die Gratulation verdient hat.
Ein Spender „vor der Vierten“, sogar einer, der bis dahin ziemlich unbeliebt war, wird mit besonderer Hochachtung behandelt. Selbst die Ärzte und Schwestern machen mit: Wenn ein Spender vor der Vierten zur Untersuchung kommt, wird er von den Weißkitteln lächelnd und mit Handschlag begrüßt. Tommy und ich redeten also oft und ausführlich über das alles, manchmal im Scherz, manchmal ernst und nachdenklich. Wir sprachen über die unterschiedliche Art und Weise, damit umzugehen, und überlegten, welche am sinnvollsten wäre. Einmal, als wir nebeneinander auf dem Bett lagen, während es draußen schon dunkel wurde, sagte er:
„Weißt du, Kath, woran es liegt, dass sich alle wegen der Vierten so aufregen? Es liegt daran, dass sie nicht sicher sind, ob sie dann wirklich abgeschlossen haben. Wenn man sicher wüsste, dass man abschließt, wäre es einfacher. Aber sie sagen es uns nicht.“
Ich hatte mich schon eine ganze Weile gefragt, ob dieses Thema wohl noch zur Sprache käme, und nachgedacht, wie ich darauf reagieren sollte.