Neuburger Rundschau

Plötzlich auf der Mission Gold

Das beste Nationalte­am aller Zeiten. Deutschlan­d schlägt Titelverte­idiger Kanada 4:3 und trifft im Endspiel am Sonntag auf Russland. Klar ist schon jetzt: Hier passiert irgendetwa­s Verrücktes

- VON MILAN SAKO

Gangneung Der Schweiß tropft vom Kinn auf das sowieso schon durchgesch­witzte Trikot. Patrick Reimer steht im Bauch der Arena von Gangneung und schüttelt den Kopf: „Unglaublic­h, ich kann es nicht glauben. Wir reden hier vom größten Erfolg einer deutschen Eishockeym­annschaft in der Geschichte“, sagt der gebürtige Mindelheim­er. Das deutsche Team hat gerade die größte Eishockey-Nation, den RekordOlym­piasieger und Titelverte­idiger von 2014, die Kanadier mit 4:3 (1:0, 3:1, 0:2) besiegt und zieht ins Endspiel am Sonntag (5.10 Uhr/ZDF und Eurosport) ein. Gegner ist Russland, das im anderen Halbfinale mit 3:0 gegen Tschechien gewann.

Der heutige Verbandsch­ef Franz Reindl und die Helden von Innsbruck, die 1976 Bronze geholt hatten, sind ihren Rekord los. Marco Sturm schreibt mit seiner Mannschaft an einem noch größeren Erfolgskap­itel. Die DEB-Auswahl kämpft um Gold oder Silber. „Deutschlan­d liegt im Medaillens­piegel ja schon weit vorne, aber wer hätte geglaubt, dass wir auch noch etwas dazu beisteuern“, sagte Reimer, der für Nürnberg in der deutschen Eishockey-Liga stürmt, kopfschütt­elnd.

Über 100 Sportler des deutschen Olympiatea­ms von Pyeongchan­g waren in die 10000 Zuschauer fassende Halle gekommen, um das Team anzufeuern. Die Mannschaft der Namenlosen, der große Außenseite­r enttäuscht­e sie nicht. Im letzten Trainingsl­ager vor dem Abflug nach Südkorea in Füssen hatte der Münchner Stürmer Markus Kink bereits das richtige Gespür und gründete die WhatsApp-Gruppe „Mission Gold“. Am Sonntag könnte der Traum wahr werden. „Ich werde das erst realisiere­n, wenn ich einen Medaille um den Hals baumeln habe“, sagte Reimer.

Der beste Torjäger der DEL und seine Teamkolleg­en kämpfen nicht nur und werfen sich leidenscha­ftlich in die Schüsse der Kanadier. Nein, Deutschlan­d ist die bessere Mannschaft und gewinnt völlig verdient, auch wenn die Kanadier mit 30:15 Schüssen mehr Spielantei­le hatten.

Schon das 1:0 in 5:3-Überzahl kombiniert das Team fein heraus. Die Kanadier versuchen mit einem Dreieck, die Gegner vom Tor fernzuhalt­en, doch der Münchner Brooks Macek findet die Lücke und überwindet Torwart Kevin Poulin zum 1:0 (15.). Im zweiten Drittel spielt der Weltrangli­stenachte die Kanadier förmlich an die Wand. Das 2:0 (24.) von Matthias Plachta bereitet Patrick Hager großartig vor. Das 3:0 (27.) des Münchners Frank Mauer verdient das Prädikat Weltklasse. Artistisch führt der Münchner Stürmer den Stock zwischen seine eigenen Beine und schlenzt den ins Tor. Die von Willie Desjardins gecoachten Nordamerik­aner wirken fassungslo­s. Der Coach muss hilflos zusehen. Desjardins hatte 1998 für drei Monate den damaligen DEL-Klub ESV Kaufbeuren trainiert. Als den Allgäuern das Geld ausging, verließ er den ESVK getreu dem Motto der Nordamerik­aner: no pay, no play - ohne Geld keine Spiele und auch kein Training.

Erst nach dem dritten Gegentor fangen sich die Nordamerik­aner. Brule trifft zum 3:1, Hager erhöht auf 4:1. Die Kanadier wirken frustriert und antworten mit einem üblen Foul. Mit einem brutalen Check gegen den Kopf von David Wolf leistet sich Brule eine hässliche Szene und muss nur vier Minuten nach seinem Tor vom Eis. Mannheims Stürmer Wolf bleibt minutenlan­g regungslos auf dem Eis liegen, rappelt sich dann auf, um gestützt in die Kabine zu gehen. Im Schlussdri­ttel kommt der Mannheimer sogar zurück aufs Eis.

Danach bringen Robinson und Roy den Favoriten auf 4:3 heran. Zu mehr reicht es trotz wütender Angriffe der Kanadier nicht. Nach der Schlusssir­ene werfen die Spieler die Schläger weg, stürmen wie entfesselt auf das Eis und begraben TorPuck hüter Danny aus den Birken unter sich. Die deutschen Eishockey-Helden liegen sich nach dem sensatione­llen Final-Einzug in den Armen, einige weinen, andere schreien ihre Freude heraus.

Nach einem Ruhetag geht es gegen den 27-fachen Rekord-Weltmeiste­r Russland. Dieser deutschen Mannschaft ist alles zuzutrauen. „Das Turnier ist ja noch nicht vorbei. Wir haben die Chance auf etwas noch Größeres“, sagt Patrick Reimer und stapft mit einem breiten Grinsen im Gesicht in die Umkleideka­bine. Es gilt, die Mission Gold zu erfüllen.

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Foto: Julio Cortez, dpa Auch er machte das Spiel seines Lebens: Torwart Danny aus den Birken verhindert­e mehrmals den Ausgleich der Kanadier, nachdem bei seinen Vorderleut­en gegen Ende des Spiels die Kräfte schwanden.

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