Aktenzeichen 1/88
Unter diesem Zeichen führte das Landgericht Ingolstadt sein erstes Verfahren überhaupt. Das ist 30 Jahre her. Seither ist einiges mehr gewesen
Ingolstadt Als es vor drei Jahrzehnten begann, war da nix. Oder fast nix. Am ersten Arbeitstag bekam Martina Friedel einen mit Stiften befüllten Papierkorb in die Hand gedrückt, wurde in ein sehr neues, aber auch sehr leeres Büro geführt und dann ging es los. In Betrieb zu nehmen war: ein Landgericht.
Die Justizfachwirtin erinnert sich gut an die ersten Tage von damals. Denn Inbetriebnahmen dieser Art gibt es in Bayern nicht alle Tage. Als am 1. März 1988 das Ingolstädter Landgericht begann, Recht zu sprechen, war – vom Sonderfall Coburg abgesehen – seit 1879 keines mehr errichtet worden. Es gab zwar die Amtsgerichte in Ingolstadt, Neuburg und Pfaffenhofen, aber wer sich mit Justiziablem größerer Ordnung auseinanderzusetzen hatte, musste sich nach Augsburg oder München bemühen.
Das galt auch für die Ingolstädterin Friedel, die bei der Justiz in der Landeshauptstadt begonnen hatte. Sie freute sich sehr, als sie die Zusage für die neue Stelle in ihrer Heimatstadt bekam und nicht mehr pendeln musste. Und sie erlebte dann, wie nach und nach eine Behörde größer wurde, die heute 21 Richter und 49 Mitarbeiter hat und vergangenes Jahr deutlich mehr als 2000 Verfahren erledigte. Begonnen hatte man 1988 mit insgesamt 39 Mitarbeitern, davon neun Richter und neun Bewährungshelfer. War man zunächst für 350000 Einwohner zuständig, gibt es 30 zuletzt sehr dynamische Jahre später 480 000 Menschen im Gerichtsbezirk.
Die Arbeit ist nicht weniger geworden. Heute ist Friedels Büro im Vorzimmer von Landgerichtspräsidentin Sibylle Dworazik natürlich mit allem ausgestattet, was es braucht. Aber vor 1988 in München, so erinnert sich die 54-Jährige, rollte man die nicht-elektronische Schreibmaschine, ein robustes Trumm aus Metall, noch auf dem Stuhl in den Sitzungssaal, wenn man Protokoll führen musste. Das Ding war einfach zu schwer. Damals gab es auch noch Durchschlagpapier. Und Kopieren war verpönt (weil: teuer). War Friedel in München noch für Zivilsachen zuständig gewesen, musste sie in Ingolstadt erstmals auch Protokoll in Strafsachen führen, nun auf elektronischen Schreibmaschinen. Nicht vergessen hat sie den Prozess wegen des Doppelmordes an zwei tschechischen Anhalterinnen. Eines der großen Ingolstädter Verfahren.
Begonnen hatte die 1. Große Strafkammer, die immer im Zentrum des öffentlichen Interesses steht – am 15. Mai 1988 mit einer kuriosen Räubergeschichte. Ein Mann und seine Schwägerin hatten mit vorgehaltenen Gasrevolvern versucht, den Geschäftsführer eines Ingolstädter Einkaufszentrums dazu zu bringen, den Tresor zu öffnen. Von den beiden unbemerkt gelang es dem allerdings, den Schlüssel wegzuschmeißen. Die BeinaheRäuber mussten fliehen. Und hatten schon vorher Pech beim Denken gehabt: Ihren Fluchtwagen hatten sie nämlich auf fremdem Privatgrund abgestellt. Der Eigentümer hatte die Polizei gerufen und die beendete die Sache dann. Es ging vor Gericht.
Mit Strafsachen direkt hat Martina Friedel heute nichts mehr zu tun. Geblieben allerdings ist ihr der Spitzname „Spürnase“. Denn saumselige Zeugen konnte sie besonders gut ausfindig machen. Und das ohne Handy. Schon vor Jahren ist sie in das Vorzimmer der Präsidentin gewechselt und hier für alles Mögliche zuständig. „Jeder Tag ist wie ein kleines Überraschungsei“, sagt sie. Irgendwas ist immer und Dienstbeginn nicht selten um 6 Uhr. Man schafft mehr, wenn die Gerichtstüren noch nicht aufgesperrt sind. Friedel kümmert sich um die Mitarbeiter und Personalangelegenheiten, um das nun schon etwas in die Tage gekommene Gerichtsgebäude, arbeitet dem Geschäftsführer in Haushaltsangelegenheiten zu. Und natürlich der Präsidentin.
Die Chefin war vor 30 Jahren übrigens auch schon in Ingolstadt. Zu Beginn ihrer Karriere war sie Beisitzerin in der 3. Zivilkammer und somit beim allerersten Verfahren mit dem Aktenzeichen 1/88 dabei: Jugendliche hatten einen Bagger kaputt gemacht und waren dann – was am Landgericht nicht geht – ohne Anwalt erschienen. 1/88 endete mit einem Vergleich. Es folgten seither allein 59999 Zivilverfahren.