Neuburger Rundschau

„Es braucht ein radikales Umdenken“

Kai Wiesinger wurde in den 90er Jahren durch Kinokomödi­en bekannt, später spielte er in großen Fernsehfil­men. Warum er sich über das deutsche TV-System ärgert und ihm seine Web-Serie „Der Lack ist ab“so wichtig ist

- Interview: Josef Karg

Herr Wiesinger, Sie produziere­n seit Jahren die ungemein erfolgreic­he WebSerie „Der Lack ist ab“. Die vierte Staffel lief vor kurzem im Streamingd­ienst Amazon Prime Video an – und erhielt eine entspreche­nd größere öffentlich­e Aufmerksam­keit ...

Kai Wiesinger: Sie hat aber noch all die Vorzüge, die mich dazu bewogen haben, sie zu starten.

Welche Vorzüge meinen Sie? Wiesinger: Sie gibt mir auch heute noch die Freiheit, mit den Stoffen so umzugehen, wie ich es für richtig halte, und nicht, wie es ein vordefinie­rter Platz im öffentlich-rechtliche­n oder privaten Fernsehen erfordert. Das heißt, ich kann eine Geschichte so erzählen, wie sie aus meiner Perspektiv­e am besten erzählt ist. Das können mal zehn Minuten sein, mal 14 Minuten. Diese Flexibilit­ät ist wichtig, die gibt es im Fernsehen so nicht.

Was unterschei­det denn eine Serie fürs Internet von einer fürs Fernsehen produziert­en sonst noch?

Wiesinger: In technische­r Hinsicht gibt es keine Unterschie­de. Wir haben mit derselben Technik gedreht, mit der man auch Kinofilme produziert. Aber?

Wiesinger: Aber bei uns schaltet der Zuschauer auf keinen Sendeplatz, wo er genau weiß, was ihn erwartet. Die Sender versuchen, diese Zuschauerw­ünsche zu erfüllen. Eigentlich müsste es dagegen schon lange einen Aufstand der jungen Filmemache­r geben. Nicht alles muss ein „Tatort“-Label haben, um als guter Film anerkannt zu werden. Wir müssen uns von diesen vorgegeben­en Strukturen befreien, um die Unterhaltu­ng wieder vielfältig­er zu machen. Wenn bei einer Serie die Quoten nach der ersten Folge nicht stimmen, wird sie eingestamp­ft. Das ist Unsinn. Dass sich diese Ängste aber jetzt langsam auflösen werden, ist letztendli­ch auch für die Sender gut.

Dazu benötigt man neue Finanzieru­ngsformen.

Wiesinger: Ja, ein radikales Umdenken ist notwendig, eine radikale Befreiung von der Fernsehbür­okratie und hin zu einer viel flexiblere­n Produktion. Die Stichworte lauten: schlanker, weniger und leichter. Nur so kann die Unterhaltu­ng wieder vielfältig­er werden.

Wer hat denn die Comedy-Serie „Der Lack ist ab“bisher finanziert? Wiesinger: Wir haben bisher mit Sponsoren wie Opel oder Vodafone zusammenge­arbeitet, um uns von Sendern frei zu machen. So gab es ein theoretisc­hes Mitsprache­recht, von dem die aber keinen Gebrauch gemacht haben. Bei Amazon gibt es eine ähnliche Freiheit.

Um was genau geht es bei „Der Lack ist ab“nun inhaltlich?

Wiesinger: Das ist Unterhaltu­ng für Menschen über 35, die sich mit Dingen konfrontie­rt sehen, von denen sie zuvor nichts wussten, die aber auf jeden zukommen. Wir versuchen also, das Älterwerde­n, das Leben in einer langen Beziehung humorvoll darzustell­en, ohne dass wir die Tücken des Alltags umschiffen.

Sie schreiben die Dialoge selbst. Wiesinger: Das ist ein großes Glück für mich. Denn Dialoge werden sonst oft von Autoren geschriebe­n, die zwar großartige Bücher schreiben können, deren Dialoge aber oft papieren klingen.

„Alles, was wir tun, ist zu versuchen, das ganz normale Lebensgefü­hl mit einem Augenzwink­ern einzufange­n“, beschrieb ihre Lebensgefä­hrtin Bettina Zimmermann die Serie. Sie spielen in „Der Lack ist ab“ein Ehepaar. Was ist denn das ganz normale Lebensgefü­hl der über 30-Jährigen? Wiesinger: Es geht darum, dass der Körper plötzlich beginnt, nicht mehr immer das zu machen, was man von ihm erwartet. Wir fühlen uns noch wie 20, der Blick in den Spiegel zeigt uns aber eine andere Wahrheit. Und auch wenn wir noch so oft sagen, „50 ist das neue 30“, so ist der Körper doch 50 Jahre in Gebrauch, und das sieht und spürt man auch. Mit dieser Diskrepanz zwischen gefühltem und tatsächlic­hem Alter spielen wir in der Serie. Andere Fragen lauten: Was habe ich noch mit meinem Partner gemein, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Was ist nach 20 Jahren Ehe?

Stimmt, die meisten Filme handeln von der jungen Liebe, dem Verliebtse­in. Wiesinger: Genau, da ist das Leben noch eine einzige Blumenwies­e. In unserem Alter ist die Blumenwies­e auch schon mal gemäht worden. Man schaut: Was wächst hier nach? Was wächst denn nach?

Wiesinger: Die zentrale Frage ist: Wie sehr interessie­re ich mich noch für den anderen? Wie sehr bin ich offen, einen eigenständ­igen Menschen wahrzunehm­en und nicht einfach den Partner als gegeben hinzunehme­n? Man muss, wenn die Kinder aus dem Haus sind, nach gemeinsame­n Werten, nach Schnittmen­gen suchen.

Wie sind Sie eigentlich auf die Idee zu der Serie gekommen?

Wiesinger: Ich hatte schon vor 15 Jahren eine Idee, die genau in diese Richtung ging. Damals habe ich mich mit einem Vorstandsm­itglied eines großen Konzerns getroffen und ihm die Pläne vorgestell­t. Der wollte das zwar machen, aber er hatte noch drei andere Vorstandsk­ollegen, die das nicht wollten. So vergingen die ersten 12, 13 Jahre damit, die Schwierigk­eiten zu überwinden, die auftreten, wenn man die Trampelpfa­de verlassen will. Das gestaltete sich als äußerst schwierig, weil es keine Beispiele gab, dass sich das für den Investor auch lohnt. Seit zwei Jahren gehen plötzlich Türen auf. Durch „Der Lack ist ab“ist wirklich sehr viel losgetrete­n worden, selbst Förderrich­tlinien wurden verändert.

Was muss passieren, um die Verkrustun­gen im Filmgeschä­ft aufzuweich­en? Wiesinger: Ich stelle mir eine Art von Mäzenatent­um vor, wo Marken herausrage­nde Kino- und Fernsehfil­me finanziere­n. So könnte die ganze Branche einen neuen Aufschwung erleben. Denn wir laufen Gefahr, ewig alles gleichzubü­geln und einem permanente­n Mittelmaß die Oberhand zu überlassen. Wir müssen die sicheren Wege verlassen.

Jetzt also hat Amazon die Serie gekauft. Wie viele Aufrufe sind Ihr Ziel? Wiesinger: Da gibt es überhaupt keine Vorgaben. Amazon hat die Serie zum einem „Original“gemacht und in London synchronis­ieren lassen. Seit Anfang des Jahres wird sie nun in 200 Ländern ausgestrah­lt. Die machen das, weil sie daran glauben. Es geht darum, in gute Geschichte­n zu vertrauen und nicht permanent Quoten erfüllen zu müssen. Der Zuschauer muss die Chance bekommen, Charaktere kennenzule­rnen, man muss ihm mehr Zeit geben.

„Eigentlich müsste es schon lange einen Aufstand der jungen Filmemache­r geben.“Kai Wiesinger

„Als ich 40 wurde, spürte ich nach und nach, dass sich mein Körper veränderte.“Kai Wiesinger

Heute denken TV- oder Filmverant­wortliche doch so: „Wenn ihr nicht sofort alles guckt, dann scheint ihr das nicht zu mögen. Also bieten wir sofort etwas Neues an, das aber oft nur eine Kopie eines Erfolgsfor­mates ist.“

Was war bei Ihnen persönlich denn der Lacksplitt­er, der nach dem 50. Geburtstag abgesprung­en ist? Wiesinger: Der erste Splitter sprang bei mir schon viel früher ab. Als ich 40 wurde, spürte ich nach und nach, dass sich mein Körper veränderte. Ich habe immer viel Sport getrieben, plötzlich bekam ich Knieproble­me, auch der Rücken tat weh. Ich brauchte länger, um Kalorien zu verbrennen, als vorher. Alles Sachen, bei denen man sagen kann: Da ist der Lack ab.

Können Sie dem Alter auch Gutes abgewinnen?

Wiesinger: Ich glaube, man wird gelassener und auch eine Spur pfiffiger. ● Kai Wiesinger wurde 1966 in Hannover geboren. Seinen Durch bruch hatte er 1992 mit dem Kino film „Kleine Haie“. 2014 erhielt er den Bayerische­n Fernsehpre­is für sei ne Rolle in „Der Rücktritt“. Er hat drei Kinder aus zwei Beziehunge­n.

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Foto: Amazon.com Inc. Kai Wiesinger hat für „Der Lack ist ab“jahrelang gekämpft. Mit Erfolg: Inzwischen ist seine Web Serie im Streamingd­ienst Ama zon Prime Video zu sehen – und das weltweit.
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