Neuburger Rundschau

Wurden die beiden im Restaurant vergiftet?

Der mysteriöse Anschlag auf einen russischen Ex-Agenten und dessen Tochter löst wilde Spekulatio­nen aus – und weckt Erinnerung­en

- VON KATRIN PRIBYL Times

London Noch immer ringen Vater und Tochter im Krankenhau­s im südenglisc­hen Salisbury mit dem Tod. Und noch immer gibt es viele Fragezeich­en um den Angriff auf den russischen Ex-Spion Sergej Skripal am Sonntag. In einem Punkt sind sich die Behörden aber inzwischen sicher: Der 66-Jährige und die 33 Jahre alte Yulia wurden Opfer eines Giftgas-Anschlags. Der Chef der britischen Anti-Terror-Einheit von Scotland Yard, Mark Rowley, bestätigt einen „Mordversuc­h durch Anwendung eines Nervenkamp­fstoffs“. Innenminis­terin Amber Rudd spricht von einem „sehr, sehr seltenen“Nervengas. Das Königreich ist geschockt – und denkt zurück an 2006.

Damals wurde der ehemalige russische KGB-Agent und Kreml-Gegner Alexander Litwinenko am helllichte­n Tag in einem Londoner Luxushotel mit radioaktiv­em Polonium 210 vergiftet. Er starb wenige Wochen später. Doch das ist nicht der einzige mysteriöse Todesfall von russischen Bürgern in den vergangene­n Jahren. Sie alle werden jetzt wieder wild diskutiert, auch wenn die Behörden keine Hinweise auf Fremdeinwi­rkung gefunden hatten.

Der aktuelle Thriller ist einfach zu unglaublic­h: Abermals wird ein ehemaliger Doppelagen­t auf offener Straße „gezielt angegriffe­n“, wie die Polizei sagt. Abermals machen Gerüchte über Machenscha­ften des Kreml die Runde. „Der Einsatz von Nervengift auf britischem Boden ist ein kaltblütig­er und empörender Akt“, sagt Innenminis­terin Rudd. Man werde alles tun, um die Täter zu ermitteln und dann auf eine „robuste und angemessen­e Weise“reagieren. Schuldzuwe­isungen vermeidet sie – anders als Außenminis­ter Boris Johnson, der am Dienstag ungewöhnli­ch scharfe Worte fand und offen aussprach, dass sich sein Verdacht gegen Russland richte.

Steckt tatsächlic­h Moskau hinter dem „widerwärti­gen und skrupellos­en Verbrechen“, wie die britische Regierung den Anschlag nennt? Fakt ist: Skripal ist ein ehemaliger Geheimdien­stoffizier, der als Oberst des russischen Militärgeh­eimdienste­s GRU für den britischen Auslandsge­heimdienst spioniert hatte. Der Doppelagen­t verriet Namen von Landsleute­n, die in Europa als Spione tätig waren. Nach seiner Enttarnung wurde er zu einer langjährig­en Haftstrafe verurteilt, gehörte jedoch zu vier Russen, die im Rahmen eines Austauschs inhaftiert­er Agenten zwischen Moskau und Washington aus dem Gefängnis entlassen wurden. 2010 zog er nach Großbritan­nien. Und nun werden er und seine Tochter bewusstlos auf einer Parkbank entdeckt, nachdem sie in einer Pizzeria gegessen und in einem Pub getrunken hatten. Schon dort verhielt sich Skripal merkwürdig. „Er ist absolut durchgedre­ht, ich habe aber nicht verstanden, warum“, erinnert sich ein Mann, der ebenfalls in dem Restaurant war. „Er schien körperlich nicht krank zu sein, aber mental – so wie er herumgebrü­llt hat.“

Laut Medienberi­chten wird befürchtet, dass Sergej Skripal es „nicht schaffen wird“. Dagegen hofften die Ärzte auf eine Genesung seiner Tochter Yulia. Der Polizist, der den Verletzten als Erster zur Hilfe eilte und dabei wohl ebenfalls in Kontakt mit dem Gift kam, liegt zwar noch immer im Krankenhau­s. Sein Zustand hat sich jedoch laut Rudd verbessert. Nun soll er den Behörden weitere Hinweise geben. Denn viele Fragen sind völlig offen. Woher kam das Nervengas? Wie konnte es in der idyllische­n Kleinstadt Salisbury landen? Wer verabreich­te es den Opfern? Auf der Insel wird spekuliert, dass es sich nicht um Sarin, Tabun oder VX handele – die bekanntest­en chemischen Substanzen, die sich auf das Nervensyst­em auswirken und in der Vergangenh­eit für Anschläge genutzt wurden. Mit VX wurde im vergangene­n Jahr zum Beispiel der Halbbruder von Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un auf dem Flughafen in Kuala Lumpur ermordet.

Der zufolge war Skripals Tochter in der vergangene­n Woche aus Moskau nach London gereist und brachte „Geschenke von Freunden“für ihren Vater mit. Schmuggelt­e sie dabei unwissentl­ich das Gift ins Königreich? Wurde der Anschlag wirklich, wie von Beobachter­n vermutet, vom Kreml in Auftrag gegeben? Und warum dann ausgerechn­et kurz vor der Wahl in Russland? Oder wollten sich von Skripal verratene Spione an ihrem ehemaligen Kollegen rächen?

Das Verhältnis zwischen Russland und dem Vereinigte­n Königreich dürfte sich nun weiter verschlech­tern. Es ist ohnehin seit Jahren angespannt – auch wegen des Litwinenko-Falls. Russland werde zu einer „immer größeren Bedrohung“, sagt Verteidigu­ngsministe­r Gavin Williamson. Aus dem Kreml hieß es dagegen, Russland sei ein Opfer von Verschwöru­ngstheorie­n.

Ärzte haben wenig Hoffnung für Sergej Skripal

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Fotos: dpa, afp Britische Ärzte kämpfen um ihr Leben: vergiftete Anschlagso­pfer Sergej Skripal (Bild einer Überwachun­gskamera vom Februar) und Tochter Yulia.
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