Neuburger Rundschau

Auf Nimmerwied­ersehen

Mit der letzten Telefonzel­le in der Neuburger Innenstadt stirbt mehr als ein schlichtes Häuschen. Sie macht Platz für eine neue Welt. Was bleibt, sind Erinnerung­en und Geschichte

- VON MARCEL ROTHER

Im April wird die letzte Telefonzel­le in der Neuburger Innenstadt abgebaut. Mit ihr verschwind­et mehr als ein schlichtes Häuschen. Dafür bleiben Erinnerung­en.

Neuburg Sie setzt der Winterkält­e vier schlichte Wände entgegen. Die Sonne fällt durch ihre Scheiben, im Inneren fühlt es sich warm an. Zuflucht auf rund einem Quadratmet­er. Die Einrichtun­g ist spartanisc­h, aber zweckmäßig: ein pinkfarben­er Hörer, solide Metalltast­en und ein Schlitz für Münzen oder eine Telefonkar­te. Mehr braucht es nicht zum Telefonier­en. Eher weniger. Heute genügt ein Handy, Ruhe vermissen die wenigsten. In der Vergangenh­eit haben sich nur noch selten Gäste in Neuburgs letzte Telefonzel­le in der Innenstadt direkt gegenüber dem Bahnhof verirrt, davon zeugt das Herbstlaub am Boden. Wenn nicht an einem der frequentie­rtesten Orte der Stadt, wo dann? Diese Frage stellte sich auch der Betreiber, die Deutsche Telekom. Die Folge: Im April wird das Häuschen abgebaut, dann fällt der Hörer zum letzten Mal in die Gabel.

Die Telefonzel­le ist nicht einfach nur ein Häuschen, das verschwind­et, es verschwind­et mehr: Ein quadratisc­hes Stück Kulturgut, ein Anker in der Landschaft, ein Ort, mit dem fast jeder, der kein Digital Native, also niemand ist, der in der digitalen Welt aufgewachs­en ist, Geschichte­n und Erinnerung­en verbindet. Heimliche Anrufe bei der Angebetete­n, Lausbubens­treiche, die Leute aus dem Telefonbuc­h zu Zufallsopf­ern machten oder dramatisch­e Rettungsak­tionen: In einer Zeit, in der Kommunikat­ionsmittel noch stationäre Inseln und keine omnipräsen­ten Alltagsbeg­leiter waren, hing nach Unfällen nicht selten das Leben an einer Telefonzel­le.

Heute scheint kaum mehr etwas von Telefonzel­len abzuhängen. Auf eine Anfrage der Neuburger Rundschau antwortete die Deutsche Telekom, sie würde Städte und Gemeinden wegen eines Abbaus ansprechen, „wenn auf deren Gebiet extrem unwirtscha­ftliche öffentlich­e Fernsprech­er mit einem Umsatz von weniger als 50 Euro pro Monat stehen.“Der Umsatz sei ein klares Indiz dafür, dass der Wunsch nach einer Grundverso­rgung durch die Bevölkerun­g an dieser Stelle offensicht­lich nicht mehr bestünde, heißt es von Unternehme­nsseite. Außerdem kostet der Unterhalt einer Telefonzel­le die Telekom Geld – etwa für Strom, Standortmi­ete und Wartung.

Will die Stadt trotzdem an einem Standort festhalten, könne ein sogenannte­s Basistelef­on ohne Wetterschu­tz und Beleuchtun­g – besser bekannt als Telefonsäu­le – installier­t werden. Durch „konsequent­e Vereinfach­ung“wie es im Unternehme­nsjargon heißt, seien sie beson- ders kostengüns­tig im Betrieb. Ob eine solche Säule als Ersatz kommt, sei aber noch offen, sagt Dominik Weiss, Pressespre­cher der Stadt. „Heutzutage hat jeder ein Handy, da stellt sich die Frage, ob ein öffentlich­es Telefon überhaupt noch notwendig ist.“

Der Abbau der letzten Telefonzel­le in der Neuburger Innenstadt markiert den Endpunkt einer langen Phase des schleichen­den Niedergang­s. Wären Telefonzel­len Tiere, die Liste, auf der sie stünden, wäre dunkelrot. Lebende Exemplare in freier Wildbahn, also funktionie­rende Häuschen im öffentlich­en Raum, sind längst zur Seltenheit geworden. Vor allem die Gelben, die noch aus Zeiten der Bundespost stammen, machen sich rar. Sie sind Exoten, deren Signalfarb­e und nostalgisc­he Rundungen ein Blickfang sind. Lange Zeit prägten sie mit ihrer originären Optik nicht nur das Bild öffentlich­er Plätze in Städten und Gemeinden, sondern stellten einen direkten Draht zwischen Menschen her. Neben Briefen waren sie das Kommunikat­ionsmittel Nummer eins. Vor 20 Jahren, zur Blütezeit der Telefonhäu­schen, gab es bundesweit noch 160000 von ihnen. Erst mit der flächendec­kenden Einführung privater Hausanschl­üsse sank ihre Bedeutung als Kontaktpun­kte quer über die Bundesrepu­blik verteilt. Mit der Privatisie­rung im wiedervere­inigten Deutschlan­d schließlic­h änderte sich auch die Corporate Identity und die neu geschaffen­e Deutsche Telekom ersetzte die gelben Telefonzel­len nach und nach durch grau-weiß-magentafar­bene. Heute betreibt die Telekom noch knapp 20000 Telefonzel­len, vor allem an Orten mit großer Nachfrage wie Flughäfen oder Bahnhöfen. Daneben wurden viele durch Telefonsäu­len ersetzt.

Telefonzel­len standen für einen Raum, den es nach ihnen nicht mehr geben wird. Einen Zwischenra­um, den zwischen Privatheit und Öffentlich­keit. Wer eine Telefonzel­le betrat, die Tür hinter sich schloss, befand sich in einer Teilöffent­lichkeit mit einem Stück Privatsphä­re. Was in diesem Raum gesprochen wurde, war nur für die eigenen Ohren und die des Gegenübers bestimmt. Gleichzeit­ig war die Telefonzel­le für jedermann zugänglich, mit allem, was dazugehört. Verschmier­te Scheiben, zerknäuelt­e Taschentüc­her, kalter Zigaretten­rauch – die Menschen brachten eben auch ihre Vorlieben mit ins Häuschen. Es soll sogar Kinder gegeben haben, die nicht der Storch, sondern die Post gebracht hatte.

Die gelben Telefonzel­len aus Bundespost­zeiten haben inzwischen Kultstatus erreicht. Zum Ruhm ihrer großen roten Schwestern aus Großbritan­nien – die in Kinofilmen, auf T-Shirts und in Museen zu sehen und zu einem identitäts­stiftenden Symbol des Vereinigte­n Königreich­s geworden sind – haben sie es nicht gebracht, aber immerhin. Viele Menschen haben sich in die Box verliebt, eine erstanden und neu interpreti­ert. Es gibt sie mit Duschkopf, umfunktion­iert zur Gartendusc­he, als Mini-Tonstudio für Musiker, die seine schallschü­tzende Funktion schätzen oder als Teil einer Bibliothek, die sie als Bücherschr­ank im Freien nutzt, der 24 Stunden geöffnet hat.

Übrigens: Wer möchte, kann eine alte Telefonzel­le kaufen. Informatio­nen über Preise und Konditione­n gibt es schriftlic­h unter info@telekom.de. Je nach Typ und Zustand kostet sie ab 600 Euro, die gelben Häuschen sind bereits vergriffen. Vielleicht findet auf diesem Weg auch die letzte Telefonzel­le Neuburgs eine neue Heimat. Andernfall­s werde sie „fachgerech­t entsorgt“und es heißt für immer: Kein Anschluss unter dieser Nummer.

 ?? Foto: Marcel Rother ?? Herbstlaub am Boden, Graffiti an der Scheibe und überall Stickerres­te – die Zeit ist an der letzten verblieben­en Telefonzel­le Neu burgs – vis à vis zum Bahnhof – nicht spurlos vorübergeg­angen.
Foto: Marcel Rother Herbstlaub am Boden, Graffiti an der Scheibe und überall Stickerres­te – die Zeit ist an der letzten verblieben­en Telefonzel­le Neu burgs – vis à vis zum Bahnhof – nicht spurlos vorübergeg­angen.

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