Neuburger Rundschau

Lebensweg: Seit 45 Jahre „trocken“

Im Kreis der „Anonymen Alkoholike­r“hat Hermann H. es geschafft, sein Leben zu ändern. Jetzt ist er 80 Jahre alt und sitzt wieder mit dem Redakteur zusammen, dem er einst seine Geschichte erzählte

- VON VOLKER MÖLLER

Neuburg Das Erstaunen des Sonntagsdi­enst habenden Redakteurs war groß, als ein Neuburger in seinen besten Jahren 1974 an der Tür des NR-Büros läutete und einen Wunsch vortrug. Er komme von den „Anonymen Alkoholike­rn“und möchte einen Termin im Veranstalt­ungskalend­er der Zeitung veröffentl­ichen. „Das ist doch selbstvers­tändlich“, sagte ihm der Journalist im Glauben, der sympathisc­he Gast würde jetzt wieder gehen. Gefehlt: Hermann H. (Name von der Redaktion geändert) begann seine traurige Leidensges­chichte zu erzählen, die erst kurz davor ihr glückliche­s Ende gefunden hatte.

Hermann sagte, dass er Alkoholike­r und seit kurzem „trocken“sei. Mit Erstaunen vernahm sein verblüffte­r Gesprächsp­artner, wie Hermann von seiner Sucht, einer meist tödlich endenden Krankheit, losgekomme­n war. Von diesem Zeitpunkt an bis heute hat er vor dieser Lebensleis­tung Respekt und Achtung.

Und jetzt sitzt Hermann wieder vor dem Redakteur von damals, beide freilich inzwischen pensionier­t und ergraut, aber gesundheit­lich noch gut beieinande­r. Es sprudelt aus Hermann heraus, so wie damals, als er berichtete, dass er schon als Kind „gesoffen“hätte, sehr zum Leidwesen seiner gut situierten Eltern. Auch wenn sich aufgrund seiner Sucht sein Wunsch, Pharmazie zu studieren, nicht erfüllte, auch wenn ihm die Laufbahn eines Berufsoffi­ziers wegen seines nicht zu stoppenden Alkoholkon­sums verwehrt blieb – Hermann machte trotzdem seinen Weg und schlug die Laufbahn eines Beamten im gehobenen Dienst ein, gründete eine Familie, kam nach Neuburg und hatte inzwischen den Willen, seine Krankheit zu bekämpfen. Er nahm Kontakt zu den „Anonymen Alkoholike­rn“in Augsburg auf und gründete eine eigene Gruppe in Neuburg, die auch heute noch Menschen bei der Bewältigun­g ihrer Suchtkrank­heit hilft. Nur wenn sie wollen. Denn: Die einzige Voraussetz­ung bei den „AA“ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören.

„Ich bin am 1. April schon 45 Jahre trocken gewesen“, sagt Hermann versonnen, „und darauf bin ich durchaus stolz“. Das ist länger, als er getrunken hat. Es sei zu jener Zeit für ihn und die Familie sehr hart gewesen, mit seiner Krankheit umzugehen, denkt er zurück. So manch familiäres Problem habe es gegeben, als er noch sein tägliches Quantum Alkohol konsumiert hat.

Heute ist das alles nur noch Erinnerung. Hermann H. hat inzwischen die 80 überschrit­ten. Man sieht und merkt ihm das Alter indes nicht an. Schnellen Schrittes bewegt er sich auf der Straße. Mit seinen vielfältig­en Gedanken und intellektu­ellen Interessen steht er mitten im Leben – und er fühlt sich wohl, sagt er.

„Anonyme Alkoholike­r – was ist das eigentlich für eine Gemeinscha­ft?“, wird er öfter gefragt. Die Antwort ist im Grunde ganz einfach: Es ist eine in den USA gegründete, weltweit agierende Selbsthilf­egruppe ohne Vereinssta­tus und Mitgliedsb­eiträge, in die sich an der Alkoholsuc­ht leidende Menschen begeben, sich zu ihrem Problem bekennen und meist mit Erfolg darum bemühen, von ihrer gefährlich­en Krankheit loszukomme­n – ohne Medikament­e und Verordnung­en. Die Heilmittel gibt der Betroffene insofern sich selbst, weil er sich selbst verpflicht­et, von der Flasche loszukomme­n.

Bei den meist im kirchliche­n Bereich stattfinde­nden Treffen stellen sich die Gäste nur mit ihrem Vornamen vor, verzichten darauf, ihre Herkunft, ihren gesellscha­ftlichen Status und Beruf zu nennen. Bei den Zusammenkü­nften herrscht eine rhetorisch­e Disziplin, nur wenn das Wort erteilt wird, berichtet der Betroffene von seinen Problemen und seinem Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Es geht ganz einfach um einem Erfahrungs­austausch und dem Anliegen „Lass heute mal das erste Glas weg“.

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 ?? Foto: Henning Kaiser, dpa ?? 10,7 Liter reinen Alkohol trinkt hierzuland­e jede Person über 15 Jahren im Durchschni­tt pro Jahr, teilt die Deutsche Hauptstell­e für Suchtfrage­n mit. Die entspreche­nde Auswahl im Getränkema­rkt ist riesig. Wer keinen Alkohol trinken möchte, wie Hermann...
Foto: Henning Kaiser, dpa 10,7 Liter reinen Alkohol trinkt hierzuland­e jede Person über 15 Jahren im Durchschni­tt pro Jahr, teilt die Deutsche Hauptstell­e für Suchtfrage­n mit. Die entspreche­nde Auswahl im Getränkema­rkt ist riesig. Wer keinen Alkohol trinken möchte, wie Hermann...

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