Erdogan bekommt Konkurrenz
Türkische Opposition präsentiert populäre Gegenkandidaten
Istanbul Muharrem Ince hielt sich nicht lange mit Nettigkeiten auf. Kaum war der 54-jährige Parlamentsabgeordnete und ehemalige Lehrer als Präsidentschaftskandidat der türkischen sozialdemokratischen kemalistischen CHP nominiert worden, startete er die erste Attacke auf seinen Gegner: Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Anders als Erdogan werde er der Präsident aller Türken sein, sagte Ince – und entfernte das CHP-Parteiabzeichen von seinem Revers, um zu unterstreichen, dass er sich ab jetzt als überparteilicher Kandidat versteht. Zudem werde er nicht in Erdogans Tausend-Zimmer-Palast in Ankara leben, sondern den Bau in eine Schule umwandeln, versprach Ince.
Wie Erdogan liebt Ince den politischen Schlagabtausch und setzt voll auf Angriff. Vor der Präsidentschaftswahl am 24. Juni erhöht er den Druck auf den siegesverwöhnten Staatschef. Erdogan sieht sich mittlerweile vier prominenten Mitbewerbern um das höchste Staatsamt gegenüber: Neben Ince sind das die Nationalistin Meral Aksener, der Islamist Temel Karamollaoglu und der inhaftierte Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas.
Letzterer, ein 45-jähriger Anwalt, könnte einen Schlüssel zum Ausgang der Wahlen in Händen halten. Demirtas tritt aus der Gefängniszelle heraus als Präsidentschaftskandidat der legalen Kurdenpartei HDP an – und könnte die absolute Mehrheit von Erdogan verhindern, indem er kurdische und linksliberale Wähler motiviert. Schon vor vier Jahren verbuchte Demirtas, damals als Chef der HDP, mit zehn Prozent einen Achtungserfolg.
Mit dem redegewandten Ince hat nun auch die CHP die Möglichkeit, ihr Wählerpotenzial von rund 25 Prozent in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl weitgehend auszuschöpfen – für Erdogan bedeutet das, dass seine Chancen auf einen Sieg mit mehr als 50 Prozent der Stimmen im ersten Anlauf sinken. Sollte eine Stichwahl am 8. Juli nötig werden, wollen mehrere Parteien gemeinsam den stärksten Oppositionskandidaten unterstützen.
Ince gibt der seit langem an Flügelkämpfen leidenden CHP die Zuversicht zurück. Jetzt sprieße neue Hoffnung für die Demokratie, jubelte die Oppositionszeitung
Gleich nach seiner Nominierung ging Ince zuerst zum Freitagsgebet in eine Moschee und plante anschließend einen Besuch beim letzten säkularistischen Präsidenten der Türkei, Ahmet Necdet Sezer: Er will fromme und laizistische Türken gleichermaßen ansprechen.
Wie viele in der Opposition befürchtet Ince allerdings, dass Erdogan versuchen könnte, eine drohende Niederlage am 24. Juni mithilfe von Wahlmanipulationen abzuwenden. In seiner Antrittsrede als CHPKanididat rief Ince die Anwälte in der Türkei deshalb auf, sich am Wahltag bereit zu halten – um notfalls beim Wahlleiter in Ankara intervenieren zu können.