Neuburger Rundschau

Eine Zuflucht aus der Hölle

Die oberbayeri­sche Erzabtei Sankt Ottilien diente vor 70 Jahren als Krankenhau­s für ehemalige KZ-Häftlinge. Dort erinnert man nun an ein einprägsam­es Ereignis

- Christophe­r Beschnitt, kna

Sankt Ottilien Es ist zwar kein Gras über die Sache gewachsen, aber jede Menge Moos. Wie ein grünes Polster überzieht es den Boden, auf dem kurz vor Kriegsende so viele Tote lagen. Es ist der 27. April 1945 an der Bahnstreck­e bei Schwabhaus­en in Oberbayern. Ein Zug mit KZHäftling­en fährt von Kaufering nach Dachau. Als ein amerikanis­cher Luftwaffen­angriff naht, flüchten die den Konvoi begleitend­en SS-Männer und lassen ihre Gefangenen hilflos auf den Gleisen zurück. Bis zu 200 Menschen sterben.

Einige aber überleben und können sich retten: in die nahe Erzabtei Sankt Ottilien. Die Mönche sind damals vertrieben, das Kloster dient als Militärkra­nkenhaus. Die Zugflüchtl­inge – meist Juden – erhalten Obdach und Behandlung, weil damals gerade die Amerikaner einrücken. Rund 500 frühere KZ-Häftlinge kommen auf dem Benediktin­er-Gelände zusammen. Das dortige Militärkra­nkenhaus wird für sie bald darauf und bis zum 6. Mai 1948 in ein Hospital für „Displaced Persons“(DP) umgewandel­t, für im Krieg verschlepp­te Menschen wie die Ex-Häftlinge. Doch bevor es so weit ist, tun die DPs etwas Frivoles.

Frivol sei es ihm zumindest er- als er erfahren habe, was die gerade erst dem Tod Entronnene­n veranstalt­en wollten, schreibt Robert L. Hilliard. In dem Buch „Von den Befreiern vergessen – Der Überlebens­kampf jüdischer KZHäftling­e unter amerikanis­cher Besatzung“schildert er seine Erlebnisse als US-Soldat im besiegten Nazi- Deutschlan­d – darunter auch das sogenannte Befreiungs­konzert von Sankt Ottilien am 27. Mai 1945.

Hilliard beschreibt, wie er bei seiner Ankunft im Kloster eine notdürftig­e Bühne erblickte und davor viele KZ-Überlebend­e: „Hunderte spindeldür­rer, abgemagert­er, blasser, skeletthaf­ter und ausdrucksl­oschienen, ser Gestalten.“Er ergänzt: „Männer und Frauen brachten Geigen, Hörner und Gamben auf die Bühne. Über die Jahre hatte man Holz, Saiten und Metallteil­e von Instrument­en in die Konzentrat­ionslager geschmugge­lt und zusammenge­setzt, Erinnerung­en an eine kultiviert­e Zivilisati­on.“Nun habe man das Leben feiern wollen.

„Die Musiker spielten Mahler, Mendelssoh­n und andere Musik, die jahrelang verboten gewesen war“, notiert Hilliard. Die schönen Klänge seien jedoch in Schmerzen übergegang­en. „Die Bewegungen und Gesichter der Musiker waren verkrampft, angespannt, ängstlich, als ob sie es nicht glauben konnten, dass es genug Raum gab, um einen Bogen zu bewegen, oder genug Luft, um eine Note zu blasen.“

Längst lebt niemand mehr von diesen Menschen. Doch an ihr Schicksal erinnern manche bis heute. „Es kommen Angehörige aus aller Welt her, um sich über ihre Vorfahren zu informiere­n“, sagt Pater Cyrill Schäfer. Der Benediktin­er hat eine Internetse­ite über Sankt Ottiliens Zeit als DP-Hospital erstellt. Diese Ära endete vor 70 Jahren. In den kommenden Monaten sind daher einige Gedenkvera­nstaltunge­n geplant. So soll es am 23. September in der Klosterkir­che eine Wiederholu­ng des Befreiungs­konzerts von 1945 geben, im Rahmen des Klassikfes­tivals „Ammerseere­nade“. Schirmherr­in ist Charlotte Knobloch, die Präsidenti­n der Israelitis­chen Kultusgeme­inde München und Oberbayern.

Pater Cyrill hofft, dass dies nur ein erster Schritt zu einem offensiver­en Erinnern ist. „Die Zeit Sankt Ottiliens als DP-Hospital war die vielleicht wichtigste in der Geschichte des Klosters: Damals hat es Menschen eine Zuflucht aus der Hölle geboten“, meint der 51-Jährige. Doch die Abtei habe diese Vergangenh­eit lange ignoriert und sich lieber in die Rolle als Nazi-Opfer zurückgezo­gen. Dabei gebe es viel zu tun: „Große Teile dieser Geschichte sind noch nicht erforscht, unsere jüdischen Grabmale in Sankt Ottilien müssten teilweise erneuert werden und die Gedenkstät­ten bei Schwabhaus­en bekannt und gut zugänglich gemacht werden.“Drei Denkmäler erinnern an der dortigen Bahnstreck­e an die Schrecken von einst. Erreichbar sind sie allerdings nur über matschige Feldwege, InfoTafeln gibt es nicht. Nur viel Moos.

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Foto: Ulrich Wagner Das Kloster Sankt Ottilien erinnert in den nächsten Monaten mit einigen Gedenkver anstaltung­en an ein wichtiges Kapitel in seiner Geschichte.

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