Neuburger Rundschau

Was eine Lady in der Türkei sah

- HISTORISCH­E STREIFZÜGE MIT RAINER BONHORST

Die Chinesen sollen mal wieder die Ersten gewesen sein. Auch aus Indien gibt es Berichte über frühe Experiment­e. Handfestes weiß man aber erst, seit die englische Lady Mary Wortley Montagu 1718 aus der Türkei zurückkehr­te. Ihr Mann war Botschafte­r am osmanische­n Hof in Istanbul und seine Frau nutzte die Zeit, die Sitten und Gebräuche des Landes kennenzule­rnen. In Briefen berichtete sie von ihren Erlebnisse­n. Eines dieser Er- lebnisse sollte – zunächst zögerlich, dann aber gründlich – die westliche Medizin revolution­ieren.

Einer Freundin beschrieb sie eine fasziniere­nde Szene: Türkische Familien würden sich zusammenfi­nden und weise Frauen einladen, die ihnen und vor allem ihren Kindern eine geheimnisv­olle Flüssigkei­t in den Arm ritzten. Die Flüssigkei­t sei Leuten entnommen worden, die leicht an Pocken erkrankt waren. Und diese Einritzung würde die Menschen dauerhaft vor Pocken schützen.

Ein sensatione­ller Bericht, denn die Pocken waren eine Plage Europas. Sie sorgten nicht nur für Tränen, weil sie schöne Gesichter durch Narben entstellte­n. Sie waren höchst ansteckend und oft tödlich. Kinder waren besonders gefährdet.

Die heimischen Ärzte hielten nichts von dem kuriosen Türkei-Bericht einer medizinisc­h ungeschult­en Diplomaten­gattin. Aber Lady Mary ließ ihre Kinder vom Botschafts­arzt in Istanbul nach türkischer Art impfen. Der war durch seinen Orientaufe­nthalt offenbar aufgeschlo­ssener als seine daheimgebl­iebenen Kollegen. Es folgte Lady Marys größter Triumph: Auch König George I ließ seinen Enkeln das Pocken-Material einritzen. Allerdings ging George auf Nummer sicher: Er ließ den Stoff erst mal an ein paar Waisen und Verurteilt­en testen. Eine königliche Pioniertat. Aber sie machte nur langsam Schule. Auch auf dem Kontinent freundete man sich nur zögerlich mit dem neumodisch­en Kram an. Es wusste ja keiner, wie so eine Impfung überhaupt funktionie­rte. Von Erregern und körpereige­nen Abwehrkräf­ten war nichts bekannt. Bis Mitte des 19. Jahrhunder­ts der Franzose Louis Pasteur und der Deutsche Robert Koch der Sache wissenscha­ftlich auf den Grund gingen. Der Siegeszug der Impfungen folgte. Die Pocken sind heute ausgerotte­t. Längst wird erfolgreic­h gegen alle möglichen Krankheite­n geimpft. Aber Gegner hat der kleine Piekser immer noch.

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