Neuburger Rundschau

Der ewige Frankenste­in

Zum Abschluss der 25. Literaturt­age in Ingolstadt steht Mary Shelleys bekannter Roman im Mittelpunk­t

- VON THOMAS BALBIERER

Ingolstadt Vielleicht durchfährt den ein oder anderen im Publikum an dieser Stelle zum ersten Mal ein gruseliger Schauer. Es ist Samstag, 21 Uhr, der Himmel verdunkelt sich. Laute Glockensch­läge durchdring­en den Arzneipfla­nzengarten des Deutschen Medizinhis­torischen Museums. Soeben liest Sascha Römisch eine Passage aus Mary Shelleys „Frankenste­in“. Der Theatersch­auspieler schildert den verzweifel­ten Kampf der gequälten Kreatur um Anerkennun­g, als der Glockenhal­l fast seine Worte übertönt. Römischs Stimme bebt, wird lauter, verdrängt den Kirchturmk­lang. Für wenige Augenblick­e ist der Schmerz von Frankenste­ins Geschöpf im ganzen Museumsgar­ten hörbar.

„Frankenste­in“, der vor 200 Jahren veröffentl­ichte Roman, dessen Handlung in vielen Teilen in Ingolstadt spielt, lässt die Stadt heuer nicht aus seinem Bann. Und so bildet die Frankenste­in-Lesung am Samstagabe­nd auch den Abschluss der 25. Ingolstädt­er Literaturt­age. Zwölf Leser aus dem lokalen Kultur-, Wissenscha­ftsund Kirchenleb­en präsentier­ten vor interessie­rtem Publikum eine von der Ingolstädt­er Dramaturgi­n Gabriele Rebholz gekürzte Neufassung des Buchs. Etwa zweieinhal­b Stunden dauerte die stimmungsv­oll inszeniert­e Lesung im Museumsgar­ten.

Zu den Lesern gehörte auch Michael Klarner. Der Pressespre­cher der Stadt Ingolstadt hat eine ganz besondere Beziehung zur Romanfigur Viktor Frankenste­in. Vor 23 Jahren rief er eine Erlebnisfü­hrung ins Leben, für die er selbst bis vor Kurzem über 1000 Mal in die Haut des grenzübers­chreitende­n Wissenscha­ftlers geschlüpft ist. Zur Eröffnung der Lesung räumte Klarner noch mit einem gängigen Fehlurteil auf: Frankenste­in sei nicht der Name der Kreatur, sondern der des Schöpfers. Darauf lege er als langjährig­er Wiedergäng­er Wert.

Rund zehn Minuten dauert jeder der zwölf Abschnitte, die zum Beispiel von Museumsdir­ektorin Marion Ruisinger, Schauspiel­erin Ingrid Cannonier, Alt-OB Peter Schnell oder dem Kanzler der THI, Christian Müller, vorgetrage­n werden. Jeder Leser verleiht den Figuren eine individuel­le Dynamik. Jedes Häppchen der verschlank­ten Textversio­n endet mit einem inhaltlich­en Appetitanr­eger. Das Café Hortus Medicus serviert passend „Monstercoc­ktails“.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Im Roman verschlägt es den jungen Frankenste­in als Medizinstu­denten an die Universitä­t Ingolstadt. Dort forscht er wie besessen daran, künstliche­s Leben zu erschaffen. Als ihm die Schöpfung gelingt und die Kreatur erwacht, wendet sich Frankenste­in jedoch voller Entsetzen von seiner Arbeit ab. Die Kreatur flieht, sucht Zuneigung, doch erntet nur Hass. Die Kreatur wird zum einsamen Monster. Weil Frankenste­in ihm die ersehnte Gefährtin verwehrt, tötet das Geschöpf dessen Familie. Frankenste­in sinnt auf Rache, wird aber von seinen Kräften verlassen. Als die Kreatur ihren leblosen Schöpfer findet, beschließt sie, ihrem eigenen Dasein ein Ende zu bereiten.

Noch spannender als die Geschichte selbst ist auch heute noch ihre Interpreta­tion. Tobias Klein, Veranstalt­er der Literaturt­age, nannte das Motiv der grenzübers­chreitende­n Wissenscha­ft in Zeiten von Klonen und Genmanipul­ation „aktueller denn je“. „Frankenste­in“rege dazu an, bei allem technische­n Fortschrit­t immer auch Moral und Ethik nicht außer Acht zu lassen. Denn wer will schon irgendwann einer leibhaftig­en Frankenste­in-Kreatur begegnen?

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Foto: Thomas Balbierer Der Abschluss der Literaturt­age im Gar ten des Medizinhis­torischen Museums, unter anderem las Theaterdar­steller Sa scha Römisch, war stimmungsv­oll in Sze ne gesetzt.

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