Der ewige Frankenstein
Zum Abschluss der 25. Literaturtage in Ingolstadt steht Mary Shelleys bekannter Roman im Mittelpunkt
Ingolstadt Vielleicht durchfährt den ein oder anderen im Publikum an dieser Stelle zum ersten Mal ein gruseliger Schauer. Es ist Samstag, 21 Uhr, der Himmel verdunkelt sich. Laute Glockenschläge durchdringen den Arzneipflanzengarten des Deutschen Medizinhistorischen Museums. Soeben liest Sascha Römisch eine Passage aus Mary Shelleys „Frankenstein“. Der Theaterschauspieler schildert den verzweifelten Kampf der gequälten Kreatur um Anerkennung, als der Glockenhall fast seine Worte übertönt. Römischs Stimme bebt, wird lauter, verdrängt den Kirchturmklang. Für wenige Augenblicke ist der Schmerz von Frankensteins Geschöpf im ganzen Museumsgarten hörbar.
„Frankenstein“, der vor 200 Jahren veröffentlichte Roman, dessen Handlung in vielen Teilen in Ingolstadt spielt, lässt die Stadt heuer nicht aus seinem Bann. Und so bildet die Frankenstein-Lesung am Samstagabend auch den Abschluss der 25. Ingolstädter Literaturtage. Zwölf Leser aus dem lokalen Kultur-, Wissenschaftsund Kirchenleben präsentierten vor interessiertem Publikum eine von der Ingolstädter Dramaturgin Gabriele Rebholz gekürzte Neufassung des Buchs. Etwa zweieinhalb Stunden dauerte die stimmungsvoll inszenierte Lesung im Museumsgarten.
Zu den Lesern gehörte auch Michael Klarner. Der Pressesprecher der Stadt Ingolstadt hat eine ganz besondere Beziehung zur Romanfigur Viktor Frankenstein. Vor 23 Jahren rief er eine Erlebnisführung ins Leben, für die er selbst bis vor Kurzem über 1000 Mal in die Haut des grenzüberschreitenden Wissenschaftlers geschlüpft ist. Zur Eröffnung der Lesung räumte Klarner noch mit einem gängigen Fehlurteil auf: Frankenstein sei nicht der Name der Kreatur, sondern der des Schöpfers. Darauf lege er als langjähriger Wiedergänger Wert.
Rund zehn Minuten dauert jeder der zwölf Abschnitte, die zum Beispiel von Museumsdirektorin Marion Ruisinger, Schauspielerin Ingrid Cannonier, Alt-OB Peter Schnell oder dem Kanzler der THI, Christian Müller, vorgetragen werden. Jeder Leser verleiht den Figuren eine individuelle Dynamik. Jedes Häppchen der verschlankten Textversion endet mit einem inhaltlichen Appetitanreger. Das Café Hortus Medicus serviert passend „Monstercocktails“.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Im Roman verschlägt es den jungen Frankenstein als Medizinstudenten an die Universität Ingolstadt. Dort forscht er wie besessen daran, künstliches Leben zu erschaffen. Als ihm die Schöpfung gelingt und die Kreatur erwacht, wendet sich Frankenstein jedoch voller Entsetzen von seiner Arbeit ab. Die Kreatur flieht, sucht Zuneigung, doch erntet nur Hass. Die Kreatur wird zum einsamen Monster. Weil Frankenstein ihm die ersehnte Gefährtin verwehrt, tötet das Geschöpf dessen Familie. Frankenstein sinnt auf Rache, wird aber von seinen Kräften verlassen. Als die Kreatur ihren leblosen Schöpfer findet, beschließt sie, ihrem eigenen Dasein ein Ende zu bereiten.
Noch spannender als die Geschichte selbst ist auch heute noch ihre Interpretation. Tobias Klein, Veranstalter der Literaturtage, nannte das Motiv der grenzüberschreitenden Wissenschaft in Zeiten von Klonen und Genmanipulation „aktueller denn je“. „Frankenstein“rege dazu an, bei allem technischen Fortschritt immer auch Moral und Ethik nicht außer Acht zu lassen. Denn wer will schon irgendwann einer leibhaftigen Frankenstein-Kreatur begegnen?