Kambodscha leidet noch heute an den Folgen des Terror Regimes der Roten Khmer
Siem Reap Heute sind die Früchte dran. Tort hält eine kleine Karte mit einer aufgemalten Melone in die Höhe. 31 Kinder brüllen begeistert Silbe für Silbe und klatschen dazu rhythmisch in die Hände: Wa-terme-lon. Dann malen sie die Buchstaben auf ihre Schiefertafeln, einen nach dem anderen. Es ist heiß unter dem Wellblechdach des Holzverschlags, in dem Tort den Kindern des kleinen kambodschanischen Dorfes in der Provinz Siem Reap Englisch beibringt. Die Mädchen und Buben zwischen sieben und zwölf Jahren teilen sich jeweils zu dritt zwei Sitze. Die roten Plastikstühle hat Tort für diesen Nachmittag, an dem sich Besucher aus Europa angekündigt haben, aus der Grundschule geliehen, die Holztische aus der Pagode. Normalerweise hocken die Kinder zum Lernen auf dem staubigen Lehmboden.
Drei Gruppen unterrichtet die 23-Jährige jeden Spätnachmittag in ihrer kleinen Privatschule. Ein Honorar bekommt sie dafür nicht. Außer ein paar Orangen vielleicht, eine Mango oder eine Flasche Saft, die die Eltern der Dorfkinder ab und zu vorbeibringen. Tort sagt: „Nur wer Englisch kann, hat später eine Chance in Kambodscha.“Die weltberühmte Tempelstadt von Angkor Wat, die größte Attraktion des Landes, ist nur sechs Kilometer von Torts Heimatdorf entfernt. Doch ins Dorf verirrt sich keiner der gut 4,5 Millionen Touristen, die jedes Jahr das Weltkulturerbe besuchen. Die Landbevölkerung bekommt von den Milliardeneinnahmen bisher kaum etwas ab.
„Ich will meinem Dorf mit dem Englischunterricht etwas zurückgeben von dem, was ich vom Leben alles bekommen habe“, sagt Tort. Bildung. Und eine Chance, die sie genutzt hat. Denn Tort wurde mit nur einem Arm geboren, in einem Land, in dem selbst für einen Gesunden das Überleben ein täglicher Kampf ist. „Als Kind war sie oft traurig“, erzählt ihre Mutter Kheng Hart, 56. Weil sie wie die anderen sein wollte. Vieles aber einfach nicht konnte.
Torts Eltern sind Reisbauern. So wie 80 Prozent aller Kambodschaner, die als Kleinbauern von dem leben, was ihre Felder hergeben. Vater Hass Hoy, 60, verdient mit dem Flicken von Fahrrad- und Mopedreifen ein bisschen was dazu. Auf ihrem Grundstück stehen drei einfache Stelzenhäuser aus Holz. Im Hof spielen Torts Nichten und Neffen. Ein paar Hunde dösen in der Sonne, Hühner picken im Staub. Einer der Neffen treibt die sechs Kühe der Familie in den Stall. Auf dem angrenzenden Feld wuchern Bananen, Kürbisse, Wasserspinat und Tabak.
Tort teilt sich mit ihrem jüngeren Bruder und dem kleinen Neffen eine der Hütten, zu der eine steile Treppe hinaufführt. Ein Bett, ein Moskitonetz, ein paar Kisten und Plastiktüten, ein Stapel Hefte und Bücher – das ist Torts Besitz. Die Wand hat sie mit bunten Postern von thailändischen Schauspielerinnen und Sängern tapeziert. Ein paar Säcke voller Reissaat, die fast so hoch sind wie die zierliche junge Frau, teilen den Raum. „Tort ist ehrgeizig“, sagt Kheng Hart stolz. Ein Vorbild. Sie hat trotz ihres Handicaps Radfahren gelernt, später Mopedfahren. Sie holt Wasser an der Pumpe hinter dem Grundstück, hilft der Mutter am offenen Feuer beim Kochen. Sie hat sich ein gleichberechtigtes Leben erkämpft. Obwohl sie jedes ihrer sieben Kinder zur Schule geschickt haben, sagt Kheng Hart, ist Tort die einzige mit Abschluss. Die anderen sind nach der ersten oder der vierten Klasse abgegangen und arbeiten heute im Nachbarland Thailand als Tagelöhner.
„Sogar beim Kühehüten hatte Tort ihre Bücher dabei“, erzählt die Mutter. Sie selbst hatten diese Chance zum Lernen nicht, die Eltern können weder lesen noch schreiben. „Als wir jung waren, wären wir auch gerne zur Schule gegangen“, sagen sie, „aber das gab’s damals nicht.“Als sie jung waren, lag das Land am Boden – durch jahrzehntelange Bürgerkriege und die Terrorherrschaft der Roten Khmer, die einen Einheits-Bauernstaat formen wollten und alle Intellektuellen, Künstler, Wissenschaftler und Lehrer umbringen ließen. Keiner kümmerte sich damals um das Thema Bildung – weil alle damit beschäftigt waren, überhaupt zu überleben. Das ist vier Jahrzehnte her – doch die Folgen sind immer noch spürbar: weil Lehrer fehlen und eine gebildete Mittelschicht.
Tort zieht eine zerknitterte Plastikhülle hervor. Darin bewahrt sie
● Das Land Das südostasiatische Kö nigreich Kambodscha mit seinen gut 16 Millionen Einwohnern ist von der Fläche her etwa halb so groß wie Deutschland. Es grenzt an Thailand, Laos und Vietnam.
● Die Geschichte Nach dem Ende des Indochina Kriegs wurde Kambod scha unabhängig. 1975 rissen die Gue rillas der Roten Khmer die Macht an sich und errichteten ein Terror Regime. Diktator Pol Pot erklärte alle Intellek tuellen zu Feinden seines Steinzeit Kommunismus. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen von damals etwa 7,5 Millionen Einwohnern fielen Pol Pots Wahnidee zum Opfer. Bis heute einen Brief auf gelbem Papier auf, den sie wie einen Schatz hütet. Als sie zehn war, wurde Tort als eines der ersten Patenkinder in ihrem Dorf in das Förderprogramm des Kinderhilfswerks Plan International aufgenommen. Sie bekam Unterstützung und Briefe der Pateneltern, einem deutschen Ehepaar. 2500 kambodschanische Kinder haben einen Sponsor in Deutschland. Die Spendengelder aber kommen dem gesamten Dorf zugute, sagt PlanProgramm-Manager Yi Kimthan: etwa in Form von Schulprojekten, Ausbildungsprogrammen, Kinderschutz-Maßnahmen oder Hygieneschulungen. Es geht immer um den gesamten Ort – damit kein Neid entstehe unter den Bewohnern.
Tort hat ihren Highschool-Abschluss gemacht, studiert. Inzwischen ist sie Grundschullehrerin und wirken die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Zeit nach. Nachdem das Regime 1979 gestürzt wurde, brach ein Bürgerkrieg aus, der erst Ende der 1990er Jahre gänzlich befriedet werden konnte.
● Die Wirtschaft Kambodscha ist ei nes der ärmsten Länder der Welt. Nachdem es 1970 noch den höchsten Lebensstandard Südostasiens hatte und den Beinamen „Schweiz Südost asiens“trug, musste man nach dem Terror Regime der Roten Khmer wieder ganz von vorne anfangen. Beim Hu man Development Index, der den Ent wicklungsstand der Staaten weltweit vergleicht, steht Kambodscha auf Platz leitet die Schulbibliothek der Phum Nokor Krao-Grundschule, die elf Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt ist. Mit dem Moped kurvt sie jeden Morgen auf der löchrigen Sandpiste zur Arbeit. Mit den 900 000 Riel – etwa 185 Euro –, die sie dort monatlich verdient, unterstützt sie die Eltern. Und spart einen Teil für ihren großen Traum: In spätestens zehn Jahren, sagt sie, möchte sie als Hochschullehrerin arbeiten und ihre Lieblingsfächer Englisch und Khmer-Literatur unterrichten. Das Lehrerstudium in der Hauptstadt Phnom Penh dauert vier Jahre, es wird staatlich gefördert, einen Teil davon müssen die Studenten aber selbst aufbringen.
Nach Angaben der Regierung gehen in dem Land, in dem 40 Prozent der Bewohner jünger als 18 Jahre sind, 98 Prozent aller Kinder zur 143 – noch hinter der Republik Kon go, Bangladesch oder Sambia. Das Durchschnittseinkommen lag 2017 bei knapp 1400 US Dollar im Jahr (etwa 1170 Euro), im Nachbarland Thailand ist es fast fünfmal so viel.
● Die Menschen Trotz fortschreitender Verstädterung leben 80 Prozent der Menschen auf dem Land und betreiben Ackerbau. Die Bevölkerung ist jung, über 40 Prozent der Kambodschaner sind unter 18 Jahre alt. Die Lebens erwartung der Männer liegt bei 66 Jah ren, die der Frauen bei 70 Jahren.
● Die Hilfe Das Kinderhilfswerk Plan International mit Sitz in Hamburg ist in 70 Ländern tätig. In Kambodscha ar Schule. Doch was heißt das schon – in Klassen mit 50 oder 60 Kindern? In Schulen, in denen ein Lehrer drei Klassen gleichzeitig unterrichten muss, weil zu wenige Kollegen aufs Land wollen? Jedes dritte Kind verlässt die Schule nach der vierten Klasse. Um dann – wie Torts Geschwister – als Hilfsarbeiter auf dem Feld zu schuften, in den Textilfabriken oder in Thailand auf dem Bau.
Vor allem für Mädchen reicht die Grundschule aus, meinen viele Eltern. Weil sie sowieso heiraten. Kinder kriegen. Das Haus versorgen. Dieses Rollenbild ist tief verankert in der kambodschanischen Gesellschaft. Jedes Schulkind hat das „Chbab Srey“, ein Gedicht aus dem 19. Jahrhundert, bis 2007 im Unterricht gelernt. In einer verkürzten Version wird es bis heute gelehrt. „Der Weg, eine perfekte Frau zu beitet die Organisation seit 2002 in 17 der 25 Provinzen. Mit den Projekten erreicht Plan insgesamt 600 000 Kinder in 580 Dörfern.
● Infos unter www.plan.de (ak) werden“, lautet der Titel. Ein Lob auf die traditionelle Geschlechterrolle, die unter anderem vorsieht, dass der Mann die Frau schlagen darf, wenn das Essen angebrannt ist. Oder sie das Haus verlässt, ohne es ihm zu sagen. Und die Hälfte aller Kambodschanerinnen zwischen 15 und 49 Jahren, hat eine Umfrage der UN ergeben, glaubt tatsächlich noch, dass Frauen ihren Männern gehorchen müssen.
„Gewalt in der Familie ist das größte Problem bei uns“, bestätigt Dorfpolizist Khann Sambo. Weniger wegen der Historie, den vergangenen Gräueltaten der Roten Khmer, die kaum mehr thematisiert werden in Kambodscha. Sondern weil Gewalt, Ausbeutung und Benachteiligung Teil der Kultur seien.
In jedem Dorf erzählt man die Schauergeschichten von verschwundenen Mädchen und skrupellosen Fremden, die gut bezahlte Jobs versprechen. Im besten Fall landen die jungen Frauen als Hausmädchen in arabischen Ländern, im schlimmsten Fall in einem Bordell in Bangkok. Etwa 8000 kambodschanische Mädchen und Frauen, schätzen Experten, verschwinden jedes Jahr im Nachbarland Thailand, verkauft von den Eltern, den Brüdern, den Verwandten. Auch der Handel mit Kindern, sagt Polizeichef Khann Sambo, ist ein Problem. Nicht wegen der Ausländer, die ins Land kämen, um sich hier ein Kind zu kaufen. Vielmehr wegen vieler kambodschanischer Eltern, die für ihren Sohn oder die Tochter auf ein besseres Leben im Ausland hoffen – und den Touristen ihren Sproß mitgeben wollen. „Die glauben, alle Ausländer sind gut“, sagt Sambo.
Der Tourismus boomt in Kambodscha, das Land gehört zu den am schnellsten wachsenden Reisezielen in Südostasien. Knapp 900 Hotels und Gästehäuser gibt es inzwischen in der Gegend um Angkor Wat. Riesige, sterile Anlagen, die einfach in die Natur gesetzt wurden – wie das Sokha Siem Reap Resort und Tagungszentrum mit fünf Sternen und 519 Zimmern, das kürzlich eröffnet wurde. Unzählige Baustellen zeigen, dass noch sehr viel mehr Hotelanlagen entstehen. Die Investoren kommen vor allem aus China und Korea. Wie auch der größte Teil der Touristen aus Asien stammt, die dann in chinesische, koreanische oder japanische Restaurants einkehren oder in den Casinos ihr Geld lassen, die Investoren aus den jeweiligen Ländern aufmachen.
„Wir können den Personalbedarf nicht decken, den die Hotels haben“, sagt Soung Nuoreath. Er ist Jobvermitter am Berufsbildungszentrum in Siem Reap, wo junge Kambodschaner in drei bis sechs Monaten für den Tourismus ausgebildet werden: zu Zimmermädchen, Rezeptionisten, Köchen, Bedienungen oder Elektrikern. Vor allem Schulabbrecher bekommen hier eine Chance – etwa 160 pro Jahr.
Kheourk Seap ist eine von ihnen. Die 21-Jährige hat die Schule nach der neunten Klasse verlassen. Der Vater ist gestorben, die Mutter konnte die zehn Kinder nicht mehr ernähren. Kheourk Seap half ihr beim Körbeflechten, vier Geschwister arbeiten als Straßenbauarbeiter in Thailand. Jetzt wird Kheourk Seap zur Küchenhelferin ausgebildet. Sie übt, wie man das Nationalgericht Fisch-Amok zubereitet, Wonton Suppe oder auch Spaghetti Carbonara. Alles, was der Tourist im Hotelrestaurant verlangt. Am Schuleingang hängen Zettel mit Stellenausschreibungen. Gesucht werden Konditoren, Masseure, Restaurant-Manager, Gärtner. Die Bezahlung ist gut – 500, 800, gar bis zu 1200 US-Dollar pro Monat werden geboten, je nach Position. Vorausgesetzt wird gutes Englisch.
Wie Lehrerin Tort längst festgestellt hat: „Nur wer Englisch kann, hat eine Chance in Kambodscha.“
Die Geschwister arbeiten als Tagelöhner in Thailand
Die Hotels werden von Chinesen gebaut