Auf den Spuren des Gefangenen Charles de Gaulle
Die bayerische Landesfestung Ingolstadt wurde nie unmittelbar angegriffen. Im Ersten Weltkrieg wurden Teile zum Gefangenenlager
Katharinenberg/Ingolstadt Von der Landstraße zweigt ein schmaler Kiesweg ab. Er führt durch einen Wald nach oben auf den Katharinenberg. Dort oben, wo sich die backsteinrote Wucht der einstigen bayerischen Landesfestung hinter massiven Steinmauern und dicht bewachsenen Hügeln verbirgt, lässt sich Geschichte noch heute erleben. Im Fort VI - auch Fort Prinz Karl genannt - wurden im Ersten Weltkrieg berühmte Offiziere gefangen gehalten. Zum Beispiel der spätere sowjetische Marschall Michail Tuchatschewski. Oder der junge französische Hauptmann Charles de Gaulle, der in den 50er Jahren zu einem der wichtigsten Weltpolitiker aufsteigen sollte.
Das Fort Prinz Karl wurde zwischen 1877 und 1881 gebaut und ist heute die einzige vollständig erhaltene Befestigung des äußeren Verteidigungsrings der bayerischen Landesfestung Ingolstadt. Der Fortgürtel spannte sich mit seinen zehn Befestigungen in einem Durchmesser von etwa 15 Kilometern rund um die Stadt. Fort Prinz Karl, benannt nach einem bayerischen Feldherrn aus dem Hause Wittelsbacher, liegt im nordöstlichen Teil der Verteidigungslinie.
Zu einem Sturm auf die Landesfestung kam es bekanntlich nie, sie verlor mit der modernen Kriegsführung ihre Verteidigungsfunktion. Während des Ersten Weltkrieges musste die Festung in Teilen als Gefangenenlager herhalten. Berüchtigt war etwa das Fort IX, in dem die „Unbeugsamen“und „AusbrecherAsse“interniert waren. So beschreibt es der Ingolstädter Historiker Dr. Gerd Treffer in seinem Buch „Die ehrenwerten Ausbrecher“. Auch das Fort Prinz Karl wurde während des Krieges zu einem Lager für gefangene Offiziere umfunktioniert. Der spätere Staatspräsident Frankreichs, Charles de Gaulle, kam als Gefangener sowohl im Fort IX als auch im Fort Prinz Karl unter - dort jedoch nur für einen einwöchigen Zwischenaufenthalt auf dem Weg ins nächste Gefangenenlager.
De Gaulle, ein 26-jähriger Hauptmann im 33. Infanterieregiment, wird im März 1916 bei Verdun verletzt und von den Deutschen gefangen genommen. Der Soldat gibt sich unbeugsam und wird deshalb im September nach Ingolstadt gebracht, wo sich das größte Kriegsgefangenenlager des Deutschen Reiches befindet. Er wird im Fort IX interniert, es liegt bei Oberstimm im Süden Ingolstadts. Die Befestigung gilt als Sammellager für alliierte Offiziere, die bereits einen Fluchtversuch begangen haben. „Sie alle an diesem Ort zu konzentrieren erwies sich allerdings als eine eher kuriose Idee“, schreibt Gerd Treffer in einem Beitrag für „Die Zeit“. Im Fort IX sei dadurch eine „Akademie des Ausbruchs“entstanden, „in der de Gaulle zum Professor für Fluchttaktik werden sollte“.
Seinen ersten Fluchtversuch startet der französische Hauptmann, als ein Paket seiner Mutter im Lager eintrifft. Sie schickt ihm unter einem Vorwand ein Fläschchen Bittersäure. De Gaulle schluckt die Flüssigkeit und wird kurz darauf wegen des Verdachts auf Gelbsucht in ein Krankenhaus verlagert. Dort besticht de Gaulle einen Krankenwärter und flieht mit einem Gefährten. „An einem Sonntag, bei Einbruch der Dämmerung, wandern die beiden Franzosen freundlich grüßend durch das Krankenhausportal hinaus. Sie wollen zu Fuß das schweizerische Schaffhausen erreichen, marschieren bei Nacht, verstecken sich tagsüber in den Wäldern“, so beschreibt es Gerd Treffer in seinem „Zeit“-Beitrag. Kurz vor Ulm werden die beiden gestellt und zurück nach Ingolstadt gebracht.
Die deutschen Kriegsgefangenenlager spiegeln im Ersten Weltkrieg die „Zwei-Klassengesellschaft“des traditionellen Heeres wider, erklärt Dr. Ansgar Reiß, der Direktor des Bayerischen Armeemuseums in Ingolstadt: auf der einen Seite die Mannschaftssoldaten, auf der anderen die Offiziere aus dem Adel. Die Offiziere genießen Privilegien wie Ausgang, dürfen Sport treiben und Bücher lesen. Sie werden respektiert. Die einfachen Soldaten werden in Massenunterkünften interniert und müssen Zwangsarbeit leisten. Trotzdem, so leiden auch die Offiziere unter der Gefangenschaft. „Sie sind dazu ausgebildet, Krieg zu führen und sind plötzlich zur Untätigkeit verdammt.“
Dieses Dilemma macht auch dem stolzen Charles de Gaulle zu schaffen. Er fürchtet sich davor, als militärischer Versager zu gelten. So schreibt er am 19. Dezember 1917 an seine Mutter in Frankreich: „So völlig nutzlos, so irreparabel nutzlos zu sein, wie ich es in diesen Stunden bin, die wir durchleben, wenn man mit jeder Faser zum Handeln geschaffen ist und überdies in der Lage, in der ich mich befinde und für einen Mann und Soldaten die grausamste ist, die man sich vorstellen kann!“Zu dieser Zeit ist de Gaulle schon nicht mehr in Ingolstadt inhaftiert. Er hat zwei weitere Fluchtversuche begangen, wurde mehrmals verlagert, und fristet nun in der Wülzburg bei Weißenburg sein Dasein. Er wird noch zwei weiReiß, tere Fluchtversuche starten. Charles de Gaulle flieht fünfmal aus der Gefangenschaft. Entkommen kann er nie. Seine Zeit als Kriegsgefangener endet erst mit dem Waffenstillstand am 11. November 1918. Selbst bei seiner offiziellen Freilassung durch die Deutschen bleibt der spätere Präsident ein Unbeugsamer. Für seine Rückreise nach Frankreich erhält er ein Zugticket dritter Klasse. De Gaulle ist erzürnt, so reist ein französischer Offizier nicht. Er leiht sich von einem Kameraden Geld und zahlt einen Aufpreis, um ehrenhaft in die Heimat zu kommen.
Das Fort Prinz Karl wird nach dem Ersten Weltkrieg weiterhin als Lager genutzt, erst für politische Gefangene und dann für Ausländer, die auf ihre Abschiebung aus Bayern warten. Anders als die übrigen Forts des äußeren Festungsgürtels bleibt das Fort VI auch nach dem Zweiten Weltkrieg gut erhalten. Es wird zunächst vom US-Militär und dann von der Bundeswehr als Munitionslager genutzt. Dass die Festung noch so gut erhalten ist, während andere Forts „dem Erdboden gleichgemacht wurden“, nennt Armeemuseumsdirektor Reiß einen „Zufall der Geschichte“.
Seit drei Jahren bietet das Museum auch Führungen durch das Fort an. Es sind besondere Erlebnisse, weil die Festung in den Berg hineingebaut wurde. Ansgar Reiß spricht von beklemmender Enge, feuchter Dunkelheit und düsteren Momenten in den Tiefen der Festung und schwärmt von dem befreienden Ausblick, den man genießt, wenn man auf das Dach der Festung steigt. Im Juni 2016 ging die zehnjährige Sanierung des Forts zu Ende. Rund vier Millionen Euro hat der Freistaat in die geschichtsträchtige Festung investiert.
Am morgigen Sonntag können die Besucher beim 3. Ingolstädter Festungstag um 11 und um 15 Uhr die Befestigung auf dem Katharinenberg besuchen und dabei auf den Spuren des so berühmten Kriegsgefangenen Charles de Gaulle wandern.