Neuburger Rundschau

Auf den Spuren des Gefangenen Charles de Gaulle

Die bayerische Landesfest­ung Ingolstadt wurde nie unmittelba­r angegriffe­n. Im Ersten Weltkrieg wurden Teile zum Gefangenen­lager

- VON THOMAS BALBIERER

Katharinen­berg/Ingolstadt Von der Landstraße zweigt ein schmaler Kiesweg ab. Er führt durch einen Wald nach oben auf den Katharinen­berg. Dort oben, wo sich die backsteinr­ote Wucht der einstigen bayerische­n Landesfest­ung hinter massiven Steinmauer­n und dicht bewachsene­n Hügeln verbirgt, lässt sich Geschichte noch heute erleben. Im Fort VI - auch Fort Prinz Karl genannt - wurden im Ersten Weltkrieg berühmte Offiziere gefangen gehalten. Zum Beispiel der spätere sowjetisch­e Marschall Michail Tuchatsche­wski. Oder der junge französisc­he Hauptmann Charles de Gaulle, der in den 50er Jahren zu einem der wichtigste­n Weltpoliti­ker aufsteigen sollte.

Das Fort Prinz Karl wurde zwischen 1877 und 1881 gebaut und ist heute die einzige vollständi­g erhaltene Befestigun­g des äußeren Verteidigu­ngsrings der bayerische­n Landesfest­ung Ingolstadt. Der Fortgürtel spannte sich mit seinen zehn Befestigun­gen in einem Durchmesse­r von etwa 15 Kilometern rund um die Stadt. Fort Prinz Karl, benannt nach einem bayerische­n Feldherrn aus dem Hause Wittelsbac­her, liegt im nordöstlic­hen Teil der Verteidigu­ngslinie.

Zu einem Sturm auf die Landesfest­ung kam es bekanntlic­h nie, sie verlor mit der modernen Kriegsführ­ung ihre Verteidigu­ngsfunktio­n. Während des Ersten Weltkriege­s musste die Festung in Teilen als Gefangenen­lager herhalten. Berüchtigt war etwa das Fort IX, in dem die „Unbeugsame­n“und „Ausbrecher­Asse“interniert waren. So beschreibt es der Ingolstädt­er Historiker Dr. Gerd Treffer in seinem Buch „Die ehrenwerte­n Ausbrecher“. Auch das Fort Prinz Karl wurde während des Krieges zu einem Lager für gefangene Offiziere umfunktion­iert. Der spätere Staatspräs­ident Frankreich­s, Charles de Gaulle, kam als Gefangener sowohl im Fort IX als auch im Fort Prinz Karl unter - dort jedoch nur für einen einwöchige­n Zwischenau­fenthalt auf dem Weg ins nächste Gefangenen­lager.

De Gaulle, ein 26-jähriger Hauptmann im 33. Infanterie­regiment, wird im März 1916 bei Verdun verletzt und von den Deutschen gefangen genommen. Der Soldat gibt sich unbeugsam und wird deshalb im September nach Ingolstadt gebracht, wo sich das größte Kriegsgefa­ngenenlage­r des Deutschen Reiches befindet. Er wird im Fort IX interniert, es liegt bei Oberstimm im Süden Ingolstadt­s. Die Befestigun­g gilt als Sammellage­r für alliierte Offiziere, die bereits einen Fluchtvers­uch begangen haben. „Sie alle an diesem Ort zu konzentrie­ren erwies sich allerdings als eine eher kuriose Idee“, schreibt Gerd Treffer in einem Beitrag für „Die Zeit“. Im Fort IX sei dadurch eine „Akademie des Ausbruchs“entstanden, „in der de Gaulle zum Professor für Fluchttakt­ik werden sollte“.

Seinen ersten Fluchtvers­uch startet der französisc­he Hauptmann, als ein Paket seiner Mutter im Lager eintrifft. Sie schickt ihm unter einem Vorwand ein Fläschchen Bittersäur­e. De Gaulle schluckt die Flüssigkei­t und wird kurz darauf wegen des Verdachts auf Gelbsucht in ein Krankenhau­s verlagert. Dort besticht de Gaulle einen Krankenwär­ter und flieht mit einem Gefährten. „An einem Sonntag, bei Einbruch der Dämmerung, wandern die beiden Franzosen freundlich grüßend durch das Krankenhau­sportal hinaus. Sie wollen zu Fuß das schweizeri­sche Schaffhaus­en erreichen, marschiere­n bei Nacht, verstecken sich tagsüber in den Wäldern“, so beschreibt es Gerd Treffer in seinem „Zeit“-Beitrag. Kurz vor Ulm werden die beiden gestellt und zurück nach Ingolstadt gebracht.

Die deutschen Kriegsgefa­ngenenlage­r spiegeln im Ersten Weltkrieg die „Zwei-Klassenges­ellschaft“des traditione­llen Heeres wider, erklärt Dr. Ansgar Reiß, der Direktor des Bayerische­n Armeemuseu­ms in Ingolstadt: auf der einen Seite die Mannschaft­ssoldaten, auf der anderen die Offiziere aus dem Adel. Die Offiziere genießen Privilegie­n wie Ausgang, dürfen Sport treiben und Bücher lesen. Sie werden respektier­t. Die einfachen Soldaten werden in Massenunte­rkünften interniert und müssen Zwangsarbe­it leisten. Trotzdem, so leiden auch die Offiziere unter der Gefangensc­haft. „Sie sind dazu ausgebilde­t, Krieg zu führen und sind plötzlich zur Untätigkei­t verdammt.“

Dieses Dilemma macht auch dem stolzen Charles de Gaulle zu schaffen. Er fürchtet sich davor, als militärisc­her Versager zu gelten. So schreibt er am 19. Dezember 1917 an seine Mutter in Frankreich: „So völlig nutzlos, so irreparabe­l nutzlos zu sein, wie ich es in diesen Stunden bin, die wir durchleben, wenn man mit jeder Faser zum Handeln geschaffen ist und überdies in der Lage, in der ich mich befinde und für einen Mann und Soldaten die grausamste ist, die man sich vorstellen kann!“Zu dieser Zeit ist de Gaulle schon nicht mehr in Ingolstadt inhaftiert. Er hat zwei weitere Fluchtvers­uche begangen, wurde mehrmals verlagert, und fristet nun in der Wülzburg bei Weißenburg sein Dasein. Er wird noch zwei weiReiß, tere Fluchtvers­uche starten. Charles de Gaulle flieht fünfmal aus der Gefangensc­haft. Entkommen kann er nie. Seine Zeit als Kriegsgefa­ngener endet erst mit dem Waffenstil­lstand am 11. November 1918. Selbst bei seiner offizielle­n Freilassun­g durch die Deutschen bleibt der spätere Präsident ein Unbeugsame­r. Für seine Rückreise nach Frankreich erhält er ein Zugticket dritter Klasse. De Gaulle ist erzürnt, so reist ein französisc­her Offizier nicht. Er leiht sich von einem Kameraden Geld und zahlt einen Aufpreis, um ehrenhaft in die Heimat zu kommen.

Das Fort Prinz Karl wird nach dem Ersten Weltkrieg weiterhin als Lager genutzt, erst für politische Gefangene und dann für Ausländer, die auf ihre Abschiebun­g aus Bayern warten. Anders als die übrigen Forts des äußeren Festungsgü­rtels bleibt das Fort VI auch nach dem Zweiten Weltkrieg gut erhalten. Es wird zunächst vom US-Militär und dann von der Bundeswehr als Munitionsl­ager genutzt. Dass die Festung noch so gut erhalten ist, während andere Forts „dem Erdboden gleichgema­cht wurden“, nennt Armeemuseu­msdirektor Reiß einen „Zufall der Geschichte“.

Seit drei Jahren bietet das Museum auch Führungen durch das Fort an. Es sind besondere Erlebnisse, weil die Festung in den Berg hineingeba­ut wurde. Ansgar Reiß spricht von beklemmend­er Enge, feuchter Dunkelheit und düsteren Momenten in den Tiefen der Festung und schwärmt von dem befreiende­n Ausblick, den man genießt, wenn man auf das Dach der Festung steigt. Im Juni 2016 ging die zehnjährig­e Sanierung des Forts zu Ende. Rund vier Millionen Euro hat der Freistaat in die geschichts­trächtige Festung investiert.

Am morgigen Sonntag können die Besucher beim 3. Ingolstädt­er Festungsta­g um 11 und um 15 Uhr die Befestigun­g auf dem Katharinen­berg besuchen und dabei auf den Spuren des so berühmten Kriegsgefa­ngenen Charles de Gaulle wandern.

 ?? Foto: Thomas Balbierer ?? Hinter Gittern? Die Offiziere, die im Fort Prinz Karl interniert waren, genossen anders als einfache Soldaten – viele Privilegie­n, zum Beispiel Ausgang. Trotzdem unternahme­n sie, wie Charles de Gaulle, immer wieder Fluchtvers­uche.
Foto: Thomas Balbierer Hinter Gittern? Die Offiziere, die im Fort Prinz Karl interniert waren, genossen anders als einfache Soldaten – viele Privilegie­n, zum Beispiel Ausgang. Trotzdem unternahme­n sie, wie Charles de Gaulle, immer wieder Fluchtvers­uche.

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