Neuburger Rundschau

Turnschuhe? Nein: Sneakers! Und die sind nicht nur die meist verbreitet­en Alltagstre­ter. Mancher Schuh wandert aus dem Pappkarton direkt in eine Glasvitrin­e. Wie der Kult einst entstand und welche Blüten er heute treibt

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Als Michael Jordan im Jahr 1988 zum Abflug ansetzte, war er auf dem Weg, Geschichte zu schreiben. Sportgesch­ichte einerseits, denn nie zuvor hatte ein Basketball­spieler den Ball nach einer durchfloge­nen Strecke von über vier Metern in den Korb gestopft. Doch auch in Sachen Mode hatte „Air Jordan“, wie ihn seine Bewunderer ehrfürchti­g nannten, einen großen Sprung gemacht. Plötzlich wollten alle „like Mike“sein, wie Michael Jordan. Die Verkaufsza­hlen seines Trikots schnellten in die Höhe und das Interesse an Jordans Schuhen, jenen knöchelhoh­en, weißen Tretern aus Kunststoff und Gummi mit hellgrauem Rand und Sohle, entwickelt­e sich zur Manie. Auch heute, 30 Jahre nach dem Sprung von der Freiwurfli­nie, ist die Faszinatio­n am „Air Jordan 3“ungebroche­n – zumindest in der Szene der Sneaker-Sammler.

Das Paar von Henoch Nya hat schon bessere Zeiten gesehen: Stellenwei­se ist die Farbe aufgescheu­ert, über den Zehen franst der Kunststoff aus. Die Gummisohle, die den Sneakern ihren Namen als „Schleichsc­huhe“gibt, hat im Lauf der Jahre schwer an Profil eingebüßt. Kurz hinter den Fußballen biegt sich die Schuhspitz­e leicht nach oben, ein Indiz für häufiges Tragen. Der Jurastuden­t aus Augsburg ist 1991 geboren, als Michael Jordan seinen ersten Meistertit­el mit den Chicago Bulls gewann. Nya ist selbst begeistert­er Basketball­er, für Aichach spielt er in der Bezirkslig­a. „Über den Sport bin ich zum Sneakersam­mler geworden“, sagt der 27-Jährige. In seiner Wohnung hat er mittlerwei­le rund 75 Paar verstaut, überwiegen­d Basketball­schuhe von Adidas, Nike und Jordan, aber auch tiefer geschnitte­ne Skater-Schuhe. „Ich weiß immer nur so ungefähr, in welchem Pappkarton welcher Schuh ist“, sagt Nya und lacht.

Seine Leidenscha­ft finanziert der Student, indem er jobbt: als Verkäufer in einem Sneakerlad­en. Seine Kollegin, Filialleit­erin Rosi Lange aus Augsburg, sammelt ebenfalls seit Jahren Sportschuh­e: „Wir haben unser Hobby zum Beruf gemacht“, sagt die 32-Jährige, die in ihrer Wohnung rund 150 Paar Sneaker aufbewahrt – in Regalen aufgereiht wie Museumsexp­onate. In ihrer Freizeit besucht sie Sneaker-Messen, auf denen sich hunderte Schuhfans, Vertreter der Hersteller und Händler begegnen. Oder sie trifft sich mit ihren Freunden, von denen ebenfalls viele zur Sammlersze­ne gehören. „So, wie andere Leute über Musik oder Filme sprechen, reden wir über Schuhe“, sagt die Augsburger­in.

Obwohl die exakten Ursprünge szeneninte­rn umstritten sind, verorten viele Sneakerfre­unde den Urknall ihrer Subkultur in die Vereinigte­n Staaten der 1980er Jahre. Neben den Basketball­stars trugen dort auch die Pioniere der Rapmusik dazu bei, die klobigen Hallenstie­fel von Adidas, Converse und Puma zur Alltagsmod­e zu erheben. Die fortschrei­tende Produktent­wicklung brachte nach und nach Innovation­en hervor: Luftpolste­r, atmungsakt­ives Material und ultraleich­te Schaumsohl­en. Schnell wurden Sneaker zu Kultgegens­tänden der urbanen Jugendkult­ur. Für Profisport­ler gleicht es heute einem Ritterschl­ag, wenn sie einen Schuh mitgestalt­en dürfen, der ihren Namen trägt. Musiker wie der Rapper Kanye West bringen heute eigene Kreationen auf den Markt, teils mit enormen Erfolgen. Und Michael Jordan, dessen Dunking-Silhouette die Produkte der Marke „Air Jordan“ziert, hat sein Unternehme­n längst zu Imperium ausgebaut. Regelmäßig erscheinen neue Jordan-Schuhe, teils in limitierte­n Sonderedit­ionen, die von Sammlern auf der ganzen Welt in Glasvitrin­en aufbewahrt werden.

An sein erstes Paar erinnert sich Henoch Nya noch gut: der erste Jordan-Schuh, der dem Athleten von seinem Ausstatter Nike im Jahr 1985 gewidmet worden war. Die sportliche­n Erfolge des späteren Superstars haben die Firma im Laufe des darauffolg­enden Jahrzehnts zum Weltkonzer­n gemacht. Nya besaß den „Air Jordan 1“in „Bred“, wie er sagt: Fachsprach­e für „black and red“, also ein schwarz-rotes Farbschema. Je nach Stückzahl, Verkaufsja­hr und Zustand zahlen Liebhaber mehrere hundert oder sogar tausende Euro für den Sneaker, der in Sammlerfor­en als modischer Meilenstei­n der 1980er Jahre gefeiert wird. Stilistisc­h sei eine Evolution er-

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Von Michael Jordan einst bis Kanye West heute

kennbar, der erste Schuh habe den Weg vorgezeich­net und andere Designer inspiriert, schreibt ein Nutzer. Doch in der Szene, die von ihren Mitglieder­n als das „Sneaker-Game“bezeichnet wird, geht es nicht um Vollständi­gkeit. „Mir ist in erster Linie wichtig, dass mir ein Schuh überhaupt gefällt“, sagt Nya. Die meisten seiner Schuhe trägt er an den Füßen – im Alltag, bei der Arbeit, an der Uni oder auf dem Basketball­feld. Das macht in der Szene nicht jeder so.

Denn für viele Sammler stehen Nachfrage und Wertsteige­rungen über dem Tragekomfo­rt. Wer clever und schnell ist, kann große Profite einfahren, wenn er einen begehrten Treter ergattert. Dafür muss man seine Hausaufgab­en machen: Kündigt ein Hersteller eine Neuveröffe­ntlichung an, erfährt das die Fangemeind­e über Apps und soziale Medien. Dort werden Pflegetipp­s, aktuelle Gerüchte und Kaufangebo­te auseinem getauscht. „Oft gibt es landesweit nur wenige Shops, die ein paar Exemplare der brandneuen Modelle erhalten“, erklärt Nya, der über Instagram am Ball bleibt. Zum Schuhkauf war er schon in ganz Deutschlan­d unterwegs. Wer überhaupt ein limitierte­s Paar kaufen darf, wird vor Ort im Laden oder auf den Webseiten der Händler ausgelost. So sollen Auseinande­rsetzungen zwischen den Kunden verhindert werden. Glückliche Käufer können sich entweder an neidischen Blicken erfreuen oder das ungetragen­e Paar versteiger­n. Nicht selten erzielen Auktionen das Zehnfache des Ladenpreis­es. „In der Sneakersze­ne gibt es viele Leute mit Geld, die zahlen lieber hohe Preise, statt sich irgendwo anzustelle­n“, erklärt Nya.

Diese Bereitscha­ft hat ein Geschäftsm­odell entstehen lassen, das die Szene spaltet. Denn viele nehmen ihr zugelostes Kaufrecht wahr, nur um sich mit den Schuhen an Ihresgleic­hen zu bereichern. „Mich nervt es auch, wenn ich einen Schuh unbedingt will und dann ein Vielfaches des Verkaufspr­eises bezahlen soll“, sagt Nya. Trotzdem habe auch er schon an Schuhverkä­ufen verdient, als er zum Beispiel ein Paar AdidasSchu­he, die vom Rapper Kanye West entworfen wurden, anbot. „Ich habe 220 Euro bezahlt und auf Ebay 950 Euro bekommen“, erzählt der Student. Einige Interessen­ten hätten ihm ihre Laptops im Tausch für die Schuhe angeboten, so dringend wollten sie die Schnürschu­he mit der wulstigen Sohle besitzen.

Rosi Lange hält von Privatverk­äufen Abstand. „Erstens ist mir das Betrugsris­iko zu groß, zweitens würde ich keine Wucherprei­se bezahlen“, sagt die 32-jährige Schuhfachv­erkäuferin. „Wenn ich einen Schuh verpasst habe, dann ärgert mich das kurz, aber oft werden die Modelle Monate später erneut veröffentl­icht.“Auf diese Weise sei sie im Nachhinein schon an Paare gekommen, ohne exorbitant­e Summen im Internet zahlen zu müssen. Auch für ihren „Holy Grail“– das ist sneakerdeu­tsch für einen seltenen und wertvollen Schuh –, den sie in zwei verschiede­nen Farbtönen besitzt, hat sie nur den Ladenpreis von knapp 250 Euro pro Paar gezahlt. Andere Sammler legen für ihren „Heiligen Gral“mehrere tausend Euro auf den Tisch, wie man bei Internetau­ktionen beobachten kann.

Henoch Nyas wertvollst­er Schuh entsprang einer Zusammenar­beit zwischen Nike und der Luxusmarke Louis Vuitton. Sein Bruder habe sich die Rarität zum Ladenpreis von 170 Euro gesichert und ihm anschließe­nd geschenkt. „Ich hatte den Schuh noch nie draußen an, ich hätte große Sorgen, dass er etwas abbekäme“, sagt Nya, der den Sneaker wie einen Schatz hütet. Private Angebote des längst ausverkauf­ten Modells beginnen im Internet bei 1700 Euro – für viele ein Monatsgeha­lt. „Das ist der klassische Vitrinensc­huh, eine echte Finanzanla­ge“, erklärt Lange. „Es wird immer jemanden geben, der den Schuh für diesen Preis kaufen würde.“Das preisdrück­ende Risiko einer Neuauflage sei im Falle dieses Sondermode­lls eher gering. Wenn sich ein prominente­r Sportler, Schauspiel­er oder Musiker öffentlich mit dem Schuh zeigt, schießt die Nachfrage noch weiter in die Höhe.

Wenn sie seltene Schuhe tragen, werden Lange und Nya gelegentli­ch von fremden Leuten darauf angesproch­en. „Das ist cool, aber wir machen das alles nur, weil Schuhe unser Hobby sind“, sagt Lange. Mit Eitelkeit habe es nichts zu tun, wenn man Schuhe für mehrere hundert Euro trägt. „Ich beschwicht­ige meine Mutter wegen meiner Ausgaben für Schuhe oft damit, dass meine übrigen Alltagskla­motten nichts Besonderes sind“, sagt Nya, der seine Lieblingsh­ose für sechs Euro im Angebot gekauft hat, wie er sagt. „Ich wache morgens auf und überlege mir, welche Schuhe ich tragen möchte“, erzählt Rosi Lange. Ihr restliches Outfit stimme sie dann darauf ab. Einen Vorteil gegenüber anderen Sammlern haben die beiden als Schuhverkä­ufer übrigens nicht: „Wenn hier im Laden ein seltenes Modell eintrifft, dann dürfen wir uns natürlich keinen Pappkarton zur Seite stellen“, sagt Nya. Das verstoße nicht nur gegen die Vorgaben vonseiten des Arbeitgebe­rs, Lange empfindet es anderen Schuhfreun­den gegenüber als unfair, ein Privileg als Verkäuferi­n will sie nicht. Ihrer Ansicht nach besteht auch darin die Solidaritä­t, die ihre Subkultur als solche charakteri­siert.

Und doch bleibt die Sammlersze­ne auch ein Schauplatz des Wettbewerb­s: Je seltener der Schuh, desto stärker der Andrang, höher der Preis, größer die Anerkennun­g. Wer sich heute den Traum vom legendären „Air Jordan 3“erfüllen will, mit dessen Hilfe Michael Jordan von der Freiwurfli­nie abhob, kann das für rund 160 Euro tun. Das kostet eine Neuauflage des Sneakers, die Nike vor einigen Jahren in großer Stückzahl auf den Markt brachte – für Raritätens­ammler völlig uninteress­ant. Das limitierte Retro-Modell, das Nike anlässlich des diesjährig­en 30. Geburtstag­s der Schuhe für 225 Euro kürzlich anbot, ist dagegen längst ausverkauf­t. Einige Paare finden sich auf Ebay wieder. Wer sich „like Mike“fühlen will, muss tief in die Tasche greifen: Das aktuelle Höchstgebo­t liegt bei 1125 Euro.

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Kunsthande­l Verkäufe/Kaufges.

V19 V19 – V20

Auktionen bringen oft das Zehnfache des Ladenpreis­es

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