Neue Jagd nach den Urknall-Geheimnissen
Warum die ohnehin schon größte aller Forschungsanlagen jetzt noch weiter aufgerüstet wird
Bei der schon jetzt größten Forschungsanlage der Welt sind wieder Bagger und Bohrmaschinen am Werk: Der Teilchenbeschleuniger LHC der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) wird auf mehr Leistung getrimmt. An dem 27 Kilometer langen Ringtunnel 100 Meter unter der Erde müssen neue Stücke angebaut werden. Start für das HiLumi LHC-Projekt (von „High Luminosity“– etwa: „hohe Leistungsfähigkeit“) im schweizerisch-französischen Grenzgebiet bei Genf war gestern. Dazu kommen weitere Ausbauprojekte. Gesamtkosten: eine Milliarde Euro.
Alles dreht sich beim Cern um die Kollisionen, die die Physiker erzeugen, wenn sie Protonen in entgegengesetzter Richtung durch den 27 Kilometer langen Tunnel schießen. Unterwegs sind in der Röhre Trillionen von Protonen, von denen jede einzelne pro Sekunde 11000 Runden dreht. Die Forscher bringen sie an bestimmten Stellen zur Kollision und simulieren damit die ersten Nanosekunden nach dem Urknall. Sie wollen unbekannte Elementarteilchen aufspüren, um bislang ungelöste Geheimnisse des Universums zu erklären.
Der Beschleuniger schafft heute eine Milliarde Protonenkollisionen in der Sekunde. Aber das reicht den Physikern nicht. Sie wollen mindestens fünf Milliarden Kollisionen erreichen. Dafür sollen zum einen mehr Protonen zirkulieren, und der Zusammenstoß soll künftig auf acht statt 16 Mikrometer fokussiert werden, um die Chance von Kollisionen zu erhöhen. Acht Mikrometer entspricht 0,008 Millimeter.
Der Beschleuniger soll 2025 viel leistungsstärkere Magneten haben, es sollen mehr Protonen auf Kollisionskurs gebracht werden. Dafür muss nun gebohrt und getunnelt werden. Oliver Brüning aus der Projektleitung: „Es ist wie bei einer Hausrenovierung. Man baut eine neue Heizung ein, die effizienter ist, aber um mehr zu heizen, braucht man mehr Holz und entsprechend größere Keller.“Nur sind die Herausforderungen am Cern etwas größer: die Physiker, die mit dem Beschleuniger in noch unbekannte Materie vorstoßen wollen, haben so ehrgeizige Pläne, dass vieles von dem nötigen Material für die Bauteile erst entwickelt werden muss.
Die Halle in Prévessin im französisch-schweizerischen Grenzgebiet, in der viele Vorbereitungsarbeiten für den Ausbau des LHC laufen, gleicht einer ganz normalen Werkstatt. Es gibt riesige Kabelspulen, Schläuche, Metallzylinder, Werkbänke, Pressen, Schrauben und Mutternschlüssel in allen Größen. An den Wänden hängen Baupläne. Mitarbeiter schrauben, messen, probieren, justieren. Die neuen Kabel und Magneten müssen deutlich leistungsfähiger sein als bislang.
Weil die Magnete stärkere Magnetfelder erzeugen sollen, mussten die Cern-Spezialisten erst Kabel entwickeln, die das aushalten können. Auch für den Stromtransport von der Steckdose zu den Magneten schufen sie Kabel aus neuen Materialen, etwa Magnesium-di-Borid, einem selbst bei hohen Temperaturen superleitenden Material. Damit kann der Energieverbrauch für den Betrieb der Magnete gedrosselt werden. „Das ist auch für die Industrie interessant“, so Brüning.
Viele Cern-Erfindungen sind heute Allgemeingut, als Komponenten in Handys, bei Diagnosen wie der Computertomografie, in der Halbleiterproduktion und bei der Tumorbehandlung. Und natürlich „die Mutter aller Erfindungen“: das am Cern entwickelte World Wide Web, das Internet. Als staatlich finanzierte Organisation stellt das Cern der Gesellschaft Entwicklungen ohne Patent zur Verfügung.
Die neuen Tunnel in 100 Metern Tiefe können nur gebohrt werden, wenn der Beschleuniger still steht. Die Vibrationen der Bohrmaschinen würden die sensiblen Instrumente stören. Deshalb beginnen die Bauarbeiten jetzt schon mal an der Erdoberfläche, denn der Beschleuniger wird im Dezember für eine zweijährige Routine-Wartung abgeschaltet. 2021 startet er noch mal im „alten“Modus. Ab 2025 sollen alle neuen Kabel, Magneten und Messinstrumente installiert sein, damit der Super-Beschleuniger dann an den Start gehen kann.