Eine Million hört Gegner Erdogans zu
Der Präsident bangt um seine Mehrheit
Istanbul Mit Äußerungen über mögliche Partner für seine Partei AKP in der Zeit nach der Wahl am Sonntag hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bereits erkennen lassen, dass er mit einem Verlust der Parlamentsmehrheit rechnet. Wenn sie weniger als 300 der 600 Sitze im Parlament erobere, müsse sie sich Verbündete suchen, sagte er.
Auch bei der parallel laufenden Präsidentenwahl wird er wohl mehr Probleme bekommen als erwartet. Muharrem Ince, einer seiner fünf Herausforderer, zog am Donnerstagabend bei einer Kundgebung in Izmir mehr als eine Million Menschen an. Die meisten Umfragen lassen erwarten, dass Erdogan sein Amt dennoch behält, dazu aber erst am 8. Juli in die Stichwahl muss. Gleichzeitig deutet sich an, dass die AKP im Parlament von derzeit fast 50 Prozent auf weniger als 45 Prozent abrutschen wird. Damit würde sie die bei weitem stärkste politische Kraft bleiben, könnte aber keine Gesetze mehr alleine verabschieden.
Erdogans Gegner wittern Morgenluft. „Wir brauchen etwas Neues“, sagt ein Istanbuler Einzelhändler. Er erinnert an den kürzlichen Machtwechsel bei Fenerbahce Istanbul, einem der populärsten Fußballklubs des Landes. Dort war der Vorsitzende nach 15 Jahren im Amt mit großer Mehrheit abgewählt worden. „Auch Erdogan regiert seit anderthalb Jahrzehnten“, sagt der Einzelhändler. „Ich wähle Ince.“
Selbst ehemalige Mitarbeiter der Regierung gehen auf Distanz. Die Türkei brauche einen „neuen Atem“, schrieb Etyen Mahcu– pyan, ein Berater des früheren Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, in der Zeitung Auch er will Ince seine Stimme geben.
Mit dem Optimismus der Erdogan-Gegner wächst deren Sorge, die Regierung könnte versuchen, die Wahl zu manipulieren. Um Unregelmäßigkeiten zu verhindern, hat ein Bündnis aus Oppositionsparteien, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen in den vergangenen Wochen rund 600 000 Wahlbeobachter ausgebildet. Mehr als 400 000 davon werden als Vertreter politischer Parteien die Auszählung der Stimmen in den einzelnen Wahllokalen überwachen und die Ergebnisse an ihre jeweiligen Zentralen melden. Die Wahllokale haben bis 16 Uhr (MESZ) geöffnet. Erste Ergebnisse soll es am Sonntagabend geben.