Frau Merkel, Herr Seehofer: Gönnen Sie sich mal was!
Die Einigung in Europa wird den Flüchtlingsstreit nicht beenden. Dennoch sollten CDU und CSU ihre Erfolge gegenseitig anerkennen – um zusammen stark zu sein
Was ist der wichtigste Unterschied zwischen einem Politiker und einem Populisten? Zu Letzterem hat sich noch nicht herumgesprochen, dass Politik ohne Kompromisse unmöglich ist. Dass ein Kompromiss, wie der Aphorismus sagt, zwar aus Halbheiten besteht, die nie ein Ganzes ergeben. Aber dass dies nur in der Mathematik unmöglich ist, in einer Demokratie hingegen unerlässlich.
Was sich in Brüssel gerade abgespielt hat, als Staats- und Regierungschefs bis ins Morgengrauen um eine „europäische Lösung“in der Asylpolitik rangen, erfüllt alle Merkmale eines solchen Kompromisses. Ganzheitlich ist der Ansatz danach ganz bestimmt nicht, ganz zufrieden ist auch niemand.
Dennoch sollte man diesen Kompromiss mit all seinen offenkundigen Schwächen loben, statt neu zu lamentieren. Vor allem aber sollte er eine Blaupause werden für die viel gravierendere Kompromisssuche – direkt zwischen Angela Merkel und ihrem Bundesinnenminister Horst Seehofer, indirekt zwischen CDU und CSU, eine der erfolgreichsten politischen Partnerschaften der deutschen Geschichte.
Auch in deren Ringen prallen kompromisslose Ansichten aufeinander. Die jener Christsozialen, die glauben, dass Kanzlerin Merkel nicht nur massiven Rechtsbruch begangen habe, als sie die Grenzen öffnen ließ (oder, genauer gesagt: nicht verschloss). Die ihr unterstellen, seitdem eine europäische Lösung immer wieder versprochen, aber stets vertagt zu haben – und so eine Spaltung der Gesellschaft sowie den Aufstieg der AfD in Kauf genommen zu haben, selbst im boomenden Bayern, wo doch niemals eine Partei rechts von der CSU hoffähig werden sollte.
Auf der radikal anderen Seite stehen Merkelianer, die sich – unverdrossen und alternativlos – als humanitäre Großtäter feiern lassen und den Bayern vorwerfen, nur aus Panik vor dem Verlust der absoluten Mehrheit mit Ängsten der Bevölkerung zu spielen.
Die Wahrheit liegt, und das ist keine Plattitüde, dazwischen. Ja, vieles lässt sich kritisieren an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Sie hat nicht nur vor der Krise Warnzeichen ignoriert, sie hat auch in der Krise die Sorgen der Bevölkerung unterschätzt – die sich oft eben eher von Gefühlen als von Statistiken leiten lässt.
Zugleich hat Angela Merkel aber längst viele Anpassungen vollzogen. Die Zahl der Flüchtlinge ist stark gesunken und weder der soziale Friede noch unsere innere Sicherheit stehen vor dem Kollaps. Zudem treiben viele Wähler auch andere Zukunftsthemen um als nur die Flüchtlingskrise – zumal Einwanderung nötig bleiben wird, um unseren Wohlstand zu bewahren. Wirtschaftsvertreter, gerade in bayerischen Boomregionen, sind oft die größten Pragmatiker in der Flüchtlingspolitik.
Deswegen sollten beide Seiten die älteste politische Kunst praktizieren: sich gegenseitig Erfolge zuzugestehen, damit alle besser aussehen. Die CSU kann reklamieren, dass dank ihr das Thema Flüchtlingsverteilung in Europa wieder Fahrt aufgenommen hat und Merkel ihre Flüchtlingspolitik endgültig revidiert hat – und die Partei kann nun darauf drängen, dass das nun Beschlossene (anders als in den Jahren zuvor) umgesetzt wird.
Umgekehrt vermag Frau Merkel für sich zu beanspruchen, an Multilateralismus in Europa festgehalten zu haben, so mühsam und nervig dieser oft ist. Und damit letztlich die CSU an ihre stolze Tradition als Europapartei erinnert zu haben.
Gönnen sich beide Seiten so viel, würden Diskussionen über Sachfragen überflüssig. Dann könnte sich die Union wieder auf das konzentrieren, worum uns immer mehr Demokratien beneiden – noch eine erfolgreiche Volkspartei zu sein.
Die Union ist eine Volkspartei – und muss es bleiben