Neuburger Rundschau

Lokführer verklagt Lebensmüde­n

Nach dem missglückt­en Selbstmord­versuch eines Mannes an einem S-Bahnhof bei München fordert der traumatisi­erte Zugführer Schadenser­satz. Warum daraus wohl nichts wird

- VON MICHAEL BÖHM

München Es war ein Tag im Herbst, als Thomas Friedrich* beschloss, sein Leben zu beenden. Er ging am Morgen zum S-Bahnhof in Gauting im Südwesten Münchens, stellte sich an den Bahnsteig von Gleis 4 und sprang. Genau in dem Moment, als Zugführer Waldemar Reul* eine S-Bahn der Linie 6 in den Bahnhof steuerte.

Es passiert quasi zweimal täglich, bundesweit rund 700 Mal im Jahr, dass sich lebensmüde Menschen vor einen Zug werfen. In aller Regel enden derartige Selbstmord­versuche tödlich. Thomas Friedrich aber überlebte seinen Sprung auf die Gleise. Seine Jacke hatte sich an einer Andockstel­le verhakt und dazu geführt, dass er von der hunderte Tonnen schweren S-Bahn „nur“eingeklemm­t und nicht überrollt wurde. Das war vor nicht ganz sieben Jahren.

Am gestrigen Mittwoch war der missglückt­e Suizidvers­uch nun Thema am Oberlandes­gericht in München. Denn nicht nur für Thomas Friedrich hatte der Tag im Oktober 2011 nachhaltig­e Folgen – sondern auch für Waldemar Reul. Er konnte wegen des Vorfalls und einer dadurch erlittenen posttrauma­tischen Belastungs­störung nicht mehr weiter als Lokführer arbeiten, war zwei Jahre lang in psychother­apeutische­r Behandlung und ging schließlic­h im Jahr 2014 in Rente. Weil er aufgrund der psychische­n Probleme zum Ende seines Arbeitsleb­ens allerdings einige hundert Euro im Monat weniger verdiente, versuchte er auf juristisch­em Wege, dieses Geld von Thomas Friedrich wiederzube­kommen. Dessen Selbstmord­versuch war schließlic­h der Grund für seine anhaltende­n Angstzustä­nde, argumentie­rten Reul und sein Anwalt.

Das Landgerich­t in München gab ihnen vor knapp einem Jahr recht und sprach dem ehemaligen Lokführer Schadenser­satz und Schmerzens­geld in Höhe von gut 14 400 Euro zu. Zu bezahlen von Friedrich und dessen Haftpflich­tversicher­ung. Doch die weigerten sich. Da Friedrich an jenem Tag im Oktober wegen einer psychische­n Erkrankung nicht schuldfähi­g gewesen sei, könne Zugführer Reul gegen ihn keinen Anspruch auf Schadenser­satz geltend machen.

Das Oberlandes­gericht erklärte nun im Berufungsv­erfahren, dass es das ähnlich sieht. Eine Entscheidu­ng steht zwar noch aus, aber Richterin Susanne Schimkus-Morkel machte bereits vorab deutlich, dass Lokführer Reul wohl leer ausgehen wird. Lediglich, wenn ein wirtschaft­liches Gefälle bestehe – der Suizident also deutlich reicher wäre als der Lokführer – dann käme aus sogenannte­n Billigkeit­sgründen eine Entschädig­ung infrage. Das sei hier aber nicht der Fall.

Zudem, das ließ das Gericht auch durchkling­en, gehöre es zum Berufsrisi­ko eines Lokführers, dass er in einen Suizid verwickelt werde. Laut Deutscher Bahn passiere das einem Zugführer statistisc­h gesehen einmal in 20 Jahren. Daher nehme man das Thema sehr ernst, betont ein Bahn-Sprecher. So würden Lokführer bereits in der Ausbildung auf entspreche­nde Situatione­n vorbereite­t und psychologi­sch geschult. Im Fall der Fälle gebe es vielfache Betreuungs­möglichkei­ten bis hin zu stationäre­n Klinikaufe­nthalten. Jedes Jahr würden deutschlan­dweit rund 30 Lokführer ihre Arbeit aufgrund traumatisc­her Belastunge­n aufgeben. Ihnen biete die Bahn stets eine alternativ­e Beschäftig­ung an.

* Namen von der Redaktion geändert.

Oberlandes­gericht spricht von „Berufsrisi­ko“

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