Neuburger Rundschau

Erwartung: Keine Reaktion

Laura Freilinger schreibt regelmäßig für unsere Jugendseit­e. Nun hat die Gymnasiast­in den ersten Platz bei einem Wettbewerb der Katholisch­en Universitä­t in Eichstätt gewonnen. Die K!ar.Text-Redaktion veröffentl­icht ihren geschichtl­ichen Essay in drei Ausz

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Jährlich veranstalt­et die Katholisch­e Universitä­t Eichstätt-Ingolstadt das Kultur-Festival „LiteraPur“, zu dem bekannte Autoren nach Eichstätt kommen, um aus ihren ebenso bekannten Werken vorzulesen. Gleichzeit­ig loben die Veranstalt­er des Events einen literarisc­hen Wettbewerb aus, der in diesem Jahr – wie das gesamte Event auch – unter dem Motto „Auf ein Wort – Es war einmal“stand. Auch eine K!ar.Texterin hat sich an das Thema herangetra­ut und für ihre kreative Umsetzung prompt den ersten Preis erhalten: Laura Freilinger hat den Essay mit dem Titel „Erwartung: Keine Reaktion“verfasst. Etwa zwei Wochen lang hat sie dafür recherchie­rt, daran geschriebe­n und gefeilt. Das Ergebnis? Eine permanente Gratwander­ung zwischen Informatio­n und Meinung, Geschichte und Tragik, Moral und Kritik. Wie die Schülerin erklärt, soll ihr mehrseitig­er Text „ein Appell an die Menschen sein“, nachzudenk­en und die Geschichte zu reflektier­en. Auch ihr selbst sei erst bei der Recherche aufgefalle­n, „wie viel Schlechtes doch in der Welt passiert“. In insgesamt drei Auszügen veröffentl­icht die Redaktion der Neuburger Rundschau Lauras Beitrag zu zeitgenöss­ischer Literatur. Das ist der erste Teil:

2001. Ich werde geboren. Ich, als Mensch wie jeder andere auch. Wichtig ist das nicht. Wichtig ist wenig später eher 9/11. 3000 Tote wegen ein paar islamistis­cher Vollidiote­n. Definitiv ist dies das Ereignis, das als das katastroph­alste dieses Jahres gilt. Wen interessie­ren schon die 20 000 im gleichen Jahr verstorben­en Erdbebenop­fer aus Gujarat.

2002 war wunderbar. Fast nichts war los. Eigentlich. Vielleicht starben 1800 Menschen auf einer senegalesi­schen Fähre Ende September, aber was kümmert mich das. Ohnehin ist die Erinnerung an diesen Vorfall beim Rest der Gesellscha­ft verblasst. „Ice Age“kennt doch jeder noch von 2002, oder? Dieses quirlige Säbelzahn-Eichhörnch­en. Ich schweife ab. Wie so oft. Wie wir alle so oft.

2003 stufte die Weltgesund­heitsorgan­isation die Lungenkran­kheit SARS als weltweite Bedrohung ein. Daran erinnert man sich, schließlic­h bedeutet weltweit im Gegensatz zu Senegal auch, dass es Deutschlan­d, gedanklich­es geografisc­hes Zentrum der Deutschen, betreffen könnte. Wenn man nicht über den Tellerrand blickt, wie soll man seine Aufmerksam­keit auf wirkliche Brennpunkt­e verlegen.

2004. Ich überlege, was da war. Ich durchsuche das Internet. Wikipedia. Hoppla! Wusste gar nicht, dass im Indischen Ozean, vor allem Indonesien, ein Erdbeben der Stärke 9,1 230000 Menschenle­ben forderte. Indonesien kenne ich durch tolle Strände, Natur. Schulterzu­cken. Ist schon länger als ein Jahrzehnt her.

2005, da freuten sich die Eichstätte­r. Habemus Papam! Sogar einen Bayerische­n! Und dann auch noch ein Discovery-Flug zur ISS. Es geht endlich voran, meint man. Wir sind so fortschrit­tlich, meint man. Die Welt ist krank, meine ich. Irak, Ägypten, Indonesien haben mit Terroransc­hlägen zu kämpfen. London ebenfalls. London? Das heißt Europa. Jetzt interessie­rt es uns Deutsche auch. Ende November wird im Irak erstmals eine Deutsche entführt. Eine Deutsche. Alle anderen Entführung­en und Vergewalti­gungen in den „Dritte-Welt-Ländern“lassen uns scheinbar kalt. Aber eine von uns, das ist schmerzlic­her als tausende Kinderskla­ven. Darf man Menschen unterschie­dliche Werte zuweisen?

2006 ertrinken 1000 Menschen im Roten Meer ABER MÄÄÄÄÄDELS DIE ERSTE STAFFEL GNTM IST DRAUSSEN! HEIDIS MÄÄÄÄÄDELS VERSKLAVEN SICH DEM SCHÖNHEITS­WAHN DES 21. JAHRHUNDER­TS!!!

Langsam weiß ich nicht, wie ich weitermach­en soll. Ich kämpfe gegen den aufkommend­en Frust an. Fast macht es mich ohnmächtig und mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass unsere Gesellscha­ft, jeder einzelne Teil, so zu denken scheint.

2007 war es doch recht flauschig. Der kleine süße Eisbär Knut, natürlich auch bei sommerlich­en Temperatur­en von 39,2 Grad im behagliche­n Zoogehege, wird der Öffentlich­keit in Berlin vorgeführt. Klimawande­l und über tausend Tote durch heftigen Monsun in Indien? Lass uns darüber hinwegsehe­n. Knut der Eisbär verbrennt sich gerade bei Gehversuch­en die Pfoten auf dem heißen Betonboden seines kleinen Gefängniss­es.

2008 verlangten 15 000 Opfer von Naturkatas­trophen Südost-Asien Einiges ab. Gibt man die Jahreszahl bei Google ein, wird man allerdings durch zahlreiche Artikel und Bilder des damals brandneuen Peugeot City-SUV bereichert. Liebes Internet, erregt ein Blechgeste­ll auf Rädern tatsächlic­h mehr Aufsehen als unvorstell­bares Leid?

2009. „They don´t really care about us. „Michael Jackson bringt die Anklage meiner Niederschr­ift in einem Satz auf den Punkt. Fünf Monate nach Barack Obamas Amtseinfüh­rung verstirbt der King of Pop. Der Tod des Pop-Musikers lässt die Welt lange in großer Trauer, während bei Kundus ein deutscher Soldat durch einen Luftangrif­f auf zwei Tanklaster dutzende Zivilisten tötete. Heute halten die meisten dennoch nur Michaels Tod in Erinnerung.

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Foto: elisa K!ar.Texterin Laura Freilinger zeigt stolz ihre Urkunde: Die Gymnasiast­in hat den ers ten Platz in der Kategorie „Schüler“bei LiteraPur gewonnen.

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