Ein wahrer Held
Beim Beerdigungsgespräch kam es ans Licht: Die Verstorbene hatte einen Bruder, mit dem sie seit über 50 Jahren kein Wort mehr gewechselt hatte. Warum wusste keiner mehr so genau, aber zur Beerdigung sollte er keinesfalls eingeladen werden. „Sie hätte es nicht gewollt“, sagten die Kinder. Und so wurde eine Jahrzehnte lang gepflegte Feindschaft erfolgreich an die nächste Generation vererbt. Außenstehende schütteln den Kopf, aber Unversöhnlichkeit ist Alltag. In Familien, unter Nachbarn und Völkern. Begriffe wie Erb- oder Erzfeind sterben ebenso wenig aus wie endlose Kriege. Haben sich die Parteien erst einmal in ihrer Opferrolle eingerichtet, wird Aussöhnung fast unmöglich. Gerechtigkeit fordern alle und Schuld hat immer der andere. Als ob es nach Jahrzehnten in einem Konflikt noch Unschuldige gäbe. In Wahrheit befeuern sich die „Unschuldigen“gegenseitig und stürzen ganze Generationen ins Verderben.
In der Bibel findet sich einer, der diesen Teufelskreis durchbrechen konnte: Esau, der Erstgeborene von Stammvater Isaak. Zweimal zieht ihn sein Bruder Jakob in Erbangelegenheiten über den Tisch. Esau will ihn umbringen, aber Jakob flieht. Als er Jahre später in die Heimat zurückkehren möchte, fürchtet er Esaus Rache. Zu Recht. Doch als sie sich begegnen, fällt ihm Esau herzlich um den Hals und heißt ihn willkommen. Nicht einmal Jakobs Gut-Wettermach-Geschenke interessieren ihn. „Ich habe genug, behalte, was du hast“, sagt er. Esau hat seinen Hass längst überwunden. Leider erfahren wir nicht, wie genau ihm das gelungen ist. Die Geschichte dreht sich um Jakob. Doch in diesem Moment ist Esau der wahre Held. Er hat etwas geschafft, was nur wenigen gelingt, denen Unrecht widerfahren ist: Er lässt seine verlorenen Rechte verloren sein und vergibt. Das muss ihn unglaubliche Überwindung gekostet haben, aber es macht ihn zum Sieger auf ganzer Linie: Er hat seinen persönlichen Frieden gefunden und dazu den nachfolgenden Generationen Frieden gesichert. Ein wahrer Held eben.