Neuburger Rundschau

Wenn man nur etwas zu essen hätte!

Sechs Stunden sattes Theaterbuf­fet: Frank Castorf inszeniert bei den Salzburger Festspiele­n Knut Hamsuns Roman „Hunger“. Volksbühne­nstars triumphier­en bis nach Mitternach­t zwischen Bretterzau­n und McDonald’s

- VON MICHAEL SCHREINER

Salzburg/Hallein „Dann hielt ich an, mein Kopf war leer, ich konnte nicht mehr (...) und zuletzt begriff ich das Ganze nicht mehr, ich dachte an nichts.“Irgendwann nach Mitternach­t ist man in der Sauna von Hallein eins mit dem halluzinie­renden, hungernden Erzähler in Knut Hamsuns Roman. Willenlos, beglückt, überforder­t, überfüllt, überreizt und erledigt nach bald sechs Stunden Castorf-Theater. Die sechsstünd­ige Abendzumut­ung bei den Salzburger Festspiele­n endet, wie große Castdorf-Inszenieru­ngen enden müssen: in einem kollektive­n Zustand der Erschöpfun­g nach dramaturgi­scher Überdehnun­g und Überfracht­ung. Die auf der Bühne heiser und abgekämpft, das Publikum (wer noch da ist…) plattgespi­elt und becastorft im Hirn.

Mit Vertrauten seiner großen Berliner Volksbühne­n-Zeit (Kathrin Angerer, Sophie Rois, Marc Hosemann, Lars Rudolph, Daniel Zillmann, Lilith Stangenber­g) hat der unermüdlic­he Berserker Frank Castorf, dessen manische Produktion­smaßlosigk­eit unfassbar bleibt, für Salzburg die Romane „Hunger“(1890) und „Mysterien“(1892) des Norwegers Knut Hamsun (1859– 1952) auf die Bühne der Pernerinse­l draußen in Hallein gebracht. Das Setting stammt wie immer von Aleksandar Denic – Bretterbud­encharme und Landstraße­nkaff, ein Labyrinth im Hinterhof-Look der Schäbigkei­t, diesmal mit einem Holzhaus und einem kompletten McDonald’s auf der Drehbühne, in dem auch gebrutzelt wird.

Und selbstrede­nd gibt es wieder Leinwände, auf die das Spiel aus den Innenräume­n des Bühnenlaby­rinths per Video übertragen wird – Interieurs und Szenen wie aus Kaurismäki-Filmen. Dazu Exkurse und allerlei Filmzitate – Buster Keaton Spaghetti essend etwa. Kein Castorf-Abend ohne Soundtrack fürs Stück. William Minke hat diesmal u. a. Tom Waits, Rammstein, Nick Cave, John Carpenter, Thin Lizzy und Haftbefehl ausgewählt…

Hunger und McDonald’s, Elend und Kapitalism­us: ein schlicht-genialer Schachzug der Theatermar­ke Castorf. Sophie Rois hat hier ihren ersten von vielen grandiosen Auftritten. Sie rattert die Speisekart­e herunter, eine Endloslita­nei – um dann auszurufen: „Oh Gott, wenn man nur was zu essen hätte!“Später tauchen als lebensgroß­e Darsteller noch eine Ganzkörper-Pommestüte und ein Hotdog auf, die sich heftiger Hunger-Attacken zu erwehren haben. Und Daniel Zillmann singt inbrünstig: „I’m going to McDonald’s every night and every day.“

Assoziativ verknüpft und interpreti­ert Frank Castorf die beiden frühen Romane Hamsuns, in denen innere Monologe wichtiger sind als Handlung. In „Hunger“streift ein einsamer erfolglose­r Schriftste­ller wie ein waidwundes Tier durch Oslo, der Hunger wirkt wie ein De- das seine Wahrnehmun­g aufwühlt. „Ich bin betrunken vom Hunger. Mein Hunger hat mich berauscht.“Im Nachfolgeb­uch „Mysterien“kommt ein undurchsic­htiger Mann im gelben Anzug mit dem Schiff aus Amerika zurück nach Norwegen – er hungert nicht mehr, aber er giert nach Liebe, er ist ein Sonderling, der zwischen Sinnsuche und Todessehns­ucht sich und anderen ein Rätsel bleibt.

In fragmentar­ischer Dramaturgi­e erzählt die bildstarke Inszenieru­ng weniger eine Geschichte, als dass sie innere Zustände bloßlegt – Visionen und Träume. Castorf erzeugt Stimmungen, er lotet Irrational­ität, Wahnsinn und Abgründe aus und frönt seiner Vorliebe für absurde Volten und Abschweifu­ngen. Ihn interessie­rt an diesem Abend intensiv, wie Armut in Demütigung führt. Wohltaten sind Geschäfte, sind Deals. Wer Geld hat, beherrscht andere – und sei es nur, dass er sie tanzen lässt für eine Münze oder ihnen etwas aufzwingt. Verlirium, drecktes Bier trinken, mit den Zähnen knirschen. Wie Sophie Rois in dieser Lage um ihre Würde kämpft, ist ein großer Bühnenmome­nt, von denen in diesen sechs Stunden einige verteilt sind wie Rosinen im dicken Teig. Demütigung und Herrschaft – dazu textet Castorf dies: „Du bist weiß und kannst mit mir machen, was du willst. Wenn du es so willst, kann ich noch eine Million Jahre schwarz bleiben“.

Es wird viel geschrien, gekeift, gebrüllt bei Castorf, er treibt seine Schauspiel­erinnen und Schauspiel­er ins Delirium, in Ekstase, Getrippel und Verrenkung­en – und entschleun­igt dann wieder, um in langen stillen Monologen die Qualitäten von Hamsuns Text zu entfalten. Marc Hosemann ist der mittellose, hungernde Autor im Unterhemd. Er ist ein Kraftzentr­um des Abends: Die Einsamkeit des Hungernden, die Verzweiflu­ng des Schreibend­en, die bedingungs­lose Eindringli­chkeit seines Spiels – die physische Wucht und Präsenz, die ins anmutig Zarte fallen kann, vergisst man nicht. Das ist dieser Mammut-Abend in jedem Fall: Schauspiel­er-Triumph.

Knut Hamsun erscheint auf der Bühne in Hallein auch persönlich: Eine Filmsequen­z zeigt ihn mit deutschen Soldaten und Nazifunkti­onären. Der Norweger, 1920 mit dem Literaturn­obelpreis ausgezeich­net, warb aktiv für den Nationalso­zialismus, traf Hitler und schrieb in einem Nachruf auf ihn 1945: „Er war ein Krieger, ein Krieger für die Menschheit und ein Verkünder des Evangelium­s vom Recht für alle Völker.“Im Bühnenbild von Aleksandar Denic fehlt es nicht an Hakenkreuz­en. Auch eine HitlerMask­e tritt auf, dahinter Josef Ostendorf mit Wagneroper­n-Singsang. Sophie Rois kommentier­t:„Es war eine böse Zeit, aber auch eine schöne Zeit, eine Begeisteru­ng war das, wie ein großer Heuriger“– Castorf-Sarkasmus. Und wie könnte er sein Publikum entlassen ohne Anspielung­en auf die Überlänge? „Wie spät ist es eigentlich?“, fragen sie sich auf der Bühne. Und „Was machen Sie denn jetzt, wenn Sie nach Hause kommen? Ja können Sie denn da gleich schlafen?“

Für den Schlaf gibt es genug Nachbilder. Lars Rudolph und sein quälend-trauriges Trompetens­piel. Marc Hosemann, wie er mit Kreide „1848“auf Bretterzäu­ne schreibt. Der Regen, der fällt – aber nur auf der Bühne, nicht draußen in der Nacht.

 ?? Foto: Matthias Horn/Salzburger Festspiele ?? Wirtschaft­swunder und McDonald’s, Hunger und Mysterien: Frank Castorf dehnt daraus einen langen Theaterabe­nd mit exzellen ter Besetzung. Im Bild von links Sophie Rois, Kathrin Angerer, Josef Ostendorf.
Foto: Matthias Horn/Salzburger Festspiele Wirtschaft­swunder und McDonald’s, Hunger und Mysterien: Frank Castorf dehnt daraus einen langen Theaterabe­nd mit exzellen ter Besetzung. Im Bild von links Sophie Rois, Kathrin Angerer, Josef Ostendorf.

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