So geht’s dem Kinoland Deutschland
Die Daten aus den letzten 20 Jahren zeigen nicht nur, welche die erfolgreichsten Streifen hierzulande waren und wie es um einheimische Produktionen steht. Sie zeigen auch, dass es für die Zukunft reichlich Grund zur Sorge gibt
Die Deutschen sind im internationalen Vergleich noch nie die größten Kinogänger gewesen. Während aktuell in Frankreich und Großbritannien im Durchschnitt jeder 2,8-mal im Jahr einen Film im Kino sieht, erreichen hierzulande nur die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen diese Werte. In den Flächenländern liegt die Durchschnittszahl bei gerade mal 1,5 – insgesamt damit bei 1,7. Selbst im Rekordjahr 2001 waren es nur 2,2 – und da liefen mit „Der Schuh des Manitu“plus erster Teil sowohl der „Harry Potter“- als auch der „Der Herr der Ringe“-Reihe gleich drei der vier erfolgreichsten Filme der letzten 20 Jahre überhaupt …
Sind solche Befunde, wie sie jetzt die Fleißarbeit des Europäischen Netzwerks für Datenjournalismus ermöglichte, bloß eine nette Sache für Statistikfreunde? Nein, sie sind viel mehr als das. Nämlich interessante, teils überraschende, teils brisante Antworten auf Fragen wie: Was sehen die Deutschen am liebsten? Was machen sie selbst am erfolgreichsten? Und wie geht es dem deutschen Kino überhaupt? Denn vor Jahren wurde ja schon den Filmtheatern der nahende Tod prophezeit, weil die mächtig aufgerüstete häusliche Bildschirm- und Beamertechnik, kombiniert mit den Angeboten von Internet-StreamingDiensten wie Netflix und Amazon, zu Zuschauerverlusten führen werde.
Und tatsächlich? Tatsächlich verzeichnet die deutsche Filmbranche im ersten Halbjahr 2018 ein Besucherund ein Umsatzminus von 17 Prozent; tatsächlich waren aber auch zuvor schon die mittelfristigen Entwicklungen besorgniserregend: Während bei den Kindern wie bei den Senioren alles stabil scheint, sinken bei der traditionell stärksten Besuchergruppe im Alter zwischen 20 und 29 die Kinogängerzahlen drastisch – allein im Vergleich der Jahre 2012 und 2017 um mehr als ein Drittel. Aber auch weiter bis zu den 49-Jährigen herrscht Schwund. Wenn dazu nun ein weiterer, empfindlicher Knick 2018 kommt…
Immer entscheidender für die Bilanzen sind immer weniger Filme, dies zeigten zuletzt Untersuchungen vor rund einem Jahr. Die großen Hits machen das Geschäft. Aber die größten Hits liegen eben schon ein paar Jahre zurück. Siehe oben, 2001. Auf Platz eins mit fast 19 Millionen Zuschauern steht übrigens nicht der weltweit erfolgreichste Film überhaupt, James Camerons „Avatar“von 2009 (bei uns nur Platz fünf), sondern vom gleichen Regisseur „Titanic“aus dem Jahr 1997. Öfter ist nur noch Peter Jackson mit allen drei „Herr der Ringe“-Teilen unter den besten sieben (1 auf Platz drei, 2 auf Platz sechs, 3 auf Platz sieben).
Der jüngste Film im Spitzenfeld ist die französische Komödie „Ziemlich beste Freunde“von 2011 – knapp vor Bully Herbigs zweitem Streich in den Top Ten und zugleich als deren Abschluss: „(T)Raumschiff Surprise“. Erst dann kommen Star-Wars-Episoden und auf Platz 18 und 19 „Fack ju Göhte“. Mit Til Schweigers „Honig im Kopf“(20) sind das fünf deutsche Filme unter den besten 20; 14 sind es unter den ersten 100.
Gut jeder zweite Streifen aber stammt aus den USA. Diese Domi- nanz ist bei der steten Filmflut mit Blockbuster-Kalkül aus Hollywood keine Überraschung. Aber auch das reicht offenbar nicht, den Knick in der Hauptzielgruppe zu verhindern.
Ist Geld ein Grund? Während etwa bei geteilten Familien-NetflixAbos jeder nur ein paar Euro im Monat für eine riesige Auswahl jederzeit verfügbarer Filme und Serien bezahlt, übersteigen die Kosten eines einzelnen Kinobesuchs das im Durchschnitt deutlich. Im statistischen Mittel mussten in Deutschland für ein Ticket 1998 noch 5,50 Euro bezahlt werden, 2017 waren es – auch von 3D-Zuschlägen verteuert – schon 8,63 Euro. So die Rechnung des Europäischen Netzwerks für Datenjournalismus.
Damit nun Schluss mit der Zahlenkanonade. Was bleibt? Ein Befund, der sich mit anderen klassischen Medien durchaus vergleichen lässt: Dass sich nämlich – siehe Bücher, siehe Musik, siehe Presse – in der Konkurrenz mit Internetangeboten nicht der befürchtete Totalabsturz ereignet hat; dass sich aber die sinkende Tendenz doch über die Jahre mehr oder weniger deutlich abzeichnet – mehr als bei Büchern, weniger als bei Musik.
Damit hat allerdings nicht nur das traditionell weniger starke Kinoland Deutschland zu kämpfen. In Hollywood beispielsweise hat dieser Druck in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die Studios immer weniger Wagnisse mit unbekannten Stoffen eingehen und immer mehr auf Wiederaufnahmen sowie Fortsetzungen bereits eingeführter und erfolgreicher Marken setzen. Das Risiko empfindlicher Flops scheint damit zumindest geringer. Denn inzwischen ist das große Filmgeschäft auf globale Geldgeberkonsortien angewiesen – ein Spekulationsobjekt der Finanzwirtschaft. Aber auch da mischen Netflix und Amazon längst mit eigenen Produktionen und exklusiven Filmstarts mit. Ob bereits getestete, aber noch nicht in der Breite verfügbare technische Neuerungen helfen könnten für ein neues Kino-Erlebnis? Mit Dimensionen wie Geruch und Bewegung?
Für den deutlich weniger globalen deutschen Markt lässt sich jedenfalls eine programmatische Botschaft aus den Statistiken lesen: Wer für die nächsten Jahrzehnte verstärkt auf das reifere Publikum setzt, dürfte richtig liegen. Denn zwischen 50 und 59 Jahren sind die Zahlen der Kinobesuche sogar gestiegen – und das sind ja die geburtenstärksten aller Jahrgänge!
Verluste bei den Jüngeren, Gewinne bei den Älteren