Eine blühende Apotheke in Ingolstadt
Der Arzneipflanzengarten des Medizinhistorischen Museums ist nicht nur eine Idylle, er beherbergt auch mehr als 200 Heilpflanzen. Seine Geschichte reicht 300 Jahre zurück. Doch so schön wie heute war er wohl nie
Ingolstadt Schwarz, rund, süß – und tödlich. Zwischen zehn und zwölf der kleinen unscheinbaren Früchte braucht es nur, und ein Erwachsener kann sterben. So gefährlich die Tollkirsche auch sein kann, sie ist gleichzeitig eine Heilpflanze. Ihren Wirkstoff Atropin nutzen Augenärzte, um die Pupillen zu weiten. Genauso wie Frauen einst in der Antike, um damit einen verführerischen – aber auch ziemlich verschwommenen – Blick zu bekommen. In der Homöopathie kommt Belladonna („Schöne Frau“), wie der wissenschaftliche Name lautet, unter anderem bei Fieber zum Einsatz. Ihr medizinischer Nutzen ist der Grund, weshalb sie im Arzneipflanzengarten des Deutschen Medizinhistorischen Museums (DMMI) zu finden ist, umrahmt von mehr als 200 anderen Pflanzen, die als Arznei eingesetzt werden.
Der Garten hat eine lange Geschichte, doch so schön gestaltet, so geordnet wie heutzutage hat er sich in den Jahrhunderten zuvor wohl nie präsentiert. Auch wenn das der Wunsch der Gründer gewesen wäre. Ein Kupferstich aus dem Jahr 1723 zeigt einen durchgeplanten Barockgarten im französischen Stil, im Hintergrund die Anatomie. Das Problem: Das alles war allein Wunschdenken der Professoren und Planer, der Garten sah stattdessen wohl eher aus wie ein „umgegrabener Acker“. So jedenfalls hatte das Christa Habrich (1940-2013), langjährige Direktorin des Medizinhistorischen Museums, einmal formuliert. Das Geld war knapp im 18. Jahrhundert, die medizinische Fakultät der in Ingolstadt ansässigen Universität musste um jeden Gulden betteln. Doch die Studenten sollten einen Garten haben, in dem sie forschen und in dem sie lernen konnten, welche Pflanzen und welche Wirkstoffe bei welchen Leiden eingesetzt werden. Das äußere Erscheinungsbild war da zweitrangig, als der Hortus medicus, der Arzneipflanzengarten, im Jahr 1723 schließlich eröffnet wurde. Er bestand 77 Jahre lang und beherbergte in einfachen, geraden Beeten an die 2000 Pflanzen – zehnmal mehr als heutzutage.
Doch der einstige Nutzgarten der Ingolstädter Studenten hat sich gewandelt zu einem Schaugarten, der im Jahr an die 30000 Besucher anlockt. Fast 200 Jahre lang, seit der Auflösung der Universität im Jahr 1800, lag er brach, erst in den 1970er Jahren hat ihn die Stadt erworben. Doch die Blütezeit des Gartens begann 20 Jahre später, im Jahr 1992. Habrich hatte sich zusammen mit Hans-Georg Wüst, dem Leiter des städtischen Gartenamts, vehement dafür eingesetzt, den Garten anlässlich der Landesgartenschau in Ingolstadt in all jener barocken Pracht erstrahlen zu lassen, die sich die Planer des 18. Jahrhunderts gewünscht hätten. Jetzt sind die Beete umgeben von akkurat geschnittenem Buchs, die zentrale Achse läuft auf den Äskulapbrunnen vor der Anatomie zu, Lindenspaliere und Hainbuchenhecken grenzen den Garten nach außen hin ab, sodass ein
Hortus conclusus, ein geschlossener Garten entstanden ist. Die Pflanzen in den Beeten sind nicht – wie bei vielen anderen Arzneimittelgärten – nach Anwendungsgebieten geordnet, sondern, wie es der Wunsch von Christa Habrich war, nach Wirkstoffgruppen. In einem der Beete gibt es Pflanzen mit vielen Bitterstoffen wie Wermut, Löwenzahn und Artischocke zu sehen, im anderen ölhaltige Pflanzen wie Ka- puzinerkresse oder Oleander, in einem anderen wiederum sogenannte Alkaloide. Dort sind viele Pflanzen mit einem Totenkopfsymbol gekennzeichnet – Vorsicht, giftig! Die Tollkirsche ist dort zu sehen, aber auch eine Tabakpflanze. Sigrid Billig ist Apothekerin und kennt den Garten seit vielen Jahren. Regelmäßig gibt sie Führungen und dann bleibt sie immer auch mal an dieser markanten Pflanze stehen. Sie weiß nicht nur, dass einst die Indianer damit ihr Schmerzempfinden und ihr Hungergefühl betäubt haben, sie kennt auch die große Gefahr, die von der Pflanze ausgehen kann, auch wenn sie noch nicht zu Tabak verarbeitet worden ist. Als Gärtner einst bemerkt hatten, dass Insekten der Tabakpflanze fernblieben, verwendeten sie ein Extrakt als Spitzmittel – mit tödlichen Folgen für sie selbst. Zwar gelte, wie Billig betont, gerade bei sogenannten Giftpflanze die Devise „Erst die Dosis macht das Gift“, doch manchmal braucht es dafür nur eine kaum fassbar kleine Dosis. 200 Mikrogramm Rizin reichten 1978 aus, um einen bulgarischen Dissidenten beim sogenannten Regenschirmattentat zu töten. Rizin wird aus der Frucht des Wunderbaums gemacht, der auch in manchem Reihenhausgarten zu finden ist – und im Arzneipflanzengarten.
Bereits in der Antike wurden Heilpflanzen eingesetzt und so ranken sich auch heute noch einige Mythen um sie. Wie um die Gemeine Wegwarte (Ein Burgfräulein und ihre Damen warteten so lange auf die heiß ersehnte Rückkehr des Ritters, bis sie sich in Wegwarten verwandelten), oder den Rainfarn (er soll Dämonen vertreiben).
Der Garten an der Alten Anatomie ist über die Jahre hinweg keinen großen Veränderungen unterworfen gewesen. Die Pflanzen bleiben weitgehend dieselben. In diesem Jahr hat der Gärtner allerdings zum ersten Mal Ingwer gepflanzt, die Heilpflanze des Jahres 2018. Bekannt ist sie vor allen Dingen für ihre wärmende Wirkung als Tee, doch sie kann noch weit mehr, erklärt Sigrid Billig. Karibische Fischer sollen Ingwer bei Seekrankheit genommen haben, auch heute wird das sogenannte Rhizom, der unterirdische Hauptspross, bei Reise- oder Schwangerschaftsübelkeit eingesetzt.
Während der Großteil des Gartens am Medizinhistorischen Museum nur zum Schauen gedacht ist, gibt es in einer Ecke eine ganz besondere Abteilung: einen Duft- und Tastgarten. Die Pflanzen wachsen in Hochbeeten und die Besucher sollen ganz bewusst all die Pflanzen anfassen, sollen die Pfefferminzblätter in ihren Händen spüren und daran riechen oder Thymian, Lavendel und Bergkiefer im wahrsten Sinne begreifen können. Vor allen Pflanzen sind Schilder mit den Bezeichnungen angebracht. Die Besonderheit: Der Name ist hier auch in tastbarer Schwarzschrift und in Braille-Schrift zu lesen für Menschen mit Sehbehinderungen.
Der Garten am Medizinhistorischen Museum ist so zu einem Garten für alle Sinne geworden. Besuch Der Besuch des Gartens ist kostenlos. Die Öffnungszeiten entspre chen denen des Museums (dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr). In der warmen Jahreszeit werden öffentliche Gartenführungen zu verschiedenen Themen angeboten. Bei Interesse können diese Führungen auch von Gruppen gebucht werden. Seit der Eröffnung des Museumsanbaus 2016 gibt es außer dem das Museumscafé „hortus medicus“, das einen Blick auf den Garten und das Münster bietet. Im Internet: www.dmm ingolstadt.de