Mit Musik und Theater gegen Missbrauch
Karin Steinherr hat einen Verein gegründet, der sich gegen sexualisierte Gewalt einsetzt. Zu dessen Gunsten findet im Oktober ein Kulturabend statt, der die Geschichte einer Betroffenen auf die Bühne bringt
Neuburg Belästigt, begrapscht, bedrängt und Schlimmeres: Alle Schattierungen sexualisierter Gewalt sind ein dunkles Terrain menschlichen Miteinanders. Besonders düster ist es, wenn es sich bei den Opfern um Jugendliche oder gar Kinder handelt. Karin Steinherr hat am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, als junges Mädchen missbraucht zu werden. Die Täter: ihr Stiefvater und dessen bester Freund. Um die Gesellschaft für Schicksale wie das ihrige zu sensibilisieren, hat die 43-Jährige Ende vergangenen Jahres einen Verein gegründet (wir berichteten), der im Oktober ein Benefizkonzert im Neuburger Stadttheater organisiert. Das Thema Missbrauch gelangt so auf eine öffentliche Bühne, auf der das tragische Schicksal von Karin Steinherr nachempfunden wird.
Sexualisierte Gewalt gegen Jungen und Mädchen ist weiter verbreitet als es polizeiliche Kriminalstatistiken auf Anhieb vermuten lassen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO etwa geht davon aus, dass 18 Millionen Minderjährige in Europa Opfer von Missbrauch werden. Für Deutschland liegen Schätzungen vor, die sich auf eine Million Betroffene unter 18 Jahren beziehen. Die Dunkelziffer, so vieles scheint klar, dürfte um ein Vielfaches höher sein.
Auch Karin Steinherr war minderjährig, als die sexuellen Handlungen an ihr begannen. Sie war gerade neun, der leibliche Vater verstorben, die Mutter mit zwei Kindern überfordert. In einem Schwimmbad lernte die Frau ihren neuen Lebensgefährten kennen. Der „Stiefvater“, wie Karin Steinherr ihn nennt, sei damals frisch aus dem Gefängnis gekommen. Der Grund für seine Zeit hinter Gittern ließ Böses vorausahnen: „Er war Wiederholungstäter und musste bereits eine Strafe wegen sexuellen Missbrauchs von zwei Mädchen absitzen“, erzählt die 43-Jährige. Zum damaligen Zeitpunkt hatten aber weder Mutter noch Tochter Kenntnis von dessen Neigungen. „Das kam alles erst später heraus“, sagt die erwachsene Tochter heute.
Anfang 1983 wurde der Mann entlassen und noch im selben Jahr zog er bei der Familie ein. Arbeit hatte er keine; ständig war er zuhause. Wenn das Mädchen von der Schule heimkam, hatte er bereits auf sie gewartet. Die Übergriffe intensivierten sich. Jeden Tag. „Das war keine einmalige Geschichte, sondern eine tägliche“, bekräftigt Karin Steinherr – obwohl es ihr aus heutiger Sicht schwer fällt, die Geschehnisse in eine lineare Reihenfolge zu bringen. „Ob etwas nun 1985 oder 1987 war, kann ich aufgrund der Häufigkeit nicht genau einordnen“, erklärt sie. Dazu kommen Schutzmechanismen der kindlichen Psyche: „Man entwickelt eine Überlebensstrategie, versucht abzuschalten und es auszuhalten.“Nach den Übergriffen sei sie zum Spielen auf den Hof und habe so getan, als sei nichts gewesen.
Die Jahre vergingen und vieles veränderte sich. Der Missbrauch blieb – bis die Übergriffe Mitte der 90er endeten. Nicht, weil sich der Mann zurückzog. Sondern, weil ihn das Landgericht Ingolstadt wegen 161 Fällen sexuellen Missbrauchs an sechs anderen Kindern zu einer Haftstrafe von fünfeinhalb Jahren verurteilte. Er verstarb noch in Haft. Doch sollte es noch lange dauern, bis sich Karin Steinherr jemandem anvertrauen konnte. Denn neben dem „Stiefvater“missbrauchte seit ihrem 13. Lebensjahr ein zweiter Mann: der beste Freund des einstigen Lebensgefährten der Mutter. „Dieser Mann hat noch viel mehr kaputt gemacht als der erste“, urteilt die Betroffene leise nickend. Von ihm konnte sie sich erst im Alter von 38 Jahren befreien.
Eine sehr lange Zeit hat Karin Steinherr über die Dinge geschwiegen, die ihr angetan wurden. Die Scham, erinnert sie sich, habe eine große Rolle dabei gespielt. Selbst als sie 1995 bei Gericht und Polizei wegen der Taten ihres „Stiefvaters“aussagen sollte, habe sie nur ein Drittel von dem preisgegeben, was wirklich geschehen war. „Den Rest habe ich verleugnet.“In der Zeit darauf habe sie die Familiengründung – sie ist Mutter von vier Kindern – abgelenkt. Vor sechs Jahren, es war 2012, brach sie dann ihr Schweigen und erzählte die Geschichte einem Freund. Sie begab sich in Therapie und gründete eine Selbsthilfegruppe, für die sie die Auszeichnung zur Heldin des Alltags der Zeitschrift
erhielt. 2017 folgte die Gründung des Vereins „Gemeinsam gegen sexuellen Missbrauch“. In diesem Rahmen geht die 43-Jährige an Schulen, um dort über das im öffentlichen Raum nach wie vor tabuisierte Thema Missbrauch aufzuklären.
Aufklärung ist auch einer der Motivationsgründe, weshalb der Verein im Oktober ein Benefizkonzert im Stadttheater veranstaltet. Ziel ist es unter anderem, die Vereinigung einem breiten Publikum vorzustellen. Wie die Initiatorin erläutert, sei der präventive Faktor ebenso von Bedeutung wie der Wille, Betroffenen Mut zuzusprechen. Denn: „Viele trauen sich nicht, darüber zu reden. Wir möchten zeigen, dass sie nicht alleine sind und einen Ansprechpartner haben.“Nesie ben Auftritten von Chor und Big Band der Musikschule Neuburg wird Theaterpädagogin Vicky Müller-Toùssa ein Stück auf die Bühne bringen. Olly Seibold ist mit Mundartkunst zu sehen, während Steinherrs Tochter Franziska auf dem Klavier spielt. Außergewöhnlich und als Programmpunkt relativ neu ist das Stück Tabu, das vom Jugendtheater des Neuburger Volkstheaters inszeniert wird und das Schicksal von Karin Steinherr nachzeichnet. Wobei, merkt die 43-Jährige an, das Thema Missbrauch subtil aufgegriffen werde, damit die Zuschauer nicht verstört das Stadttheater verlassen. Und um eines vorweg zu nehmen: Es gibt ein Happy End. „Schließlich hat sich auch meine Geschichte zum Positiven gewandt.“
OTermin Das Benefizkonzert findet am 2. Oktober im Stadttheater statt. Be ginn ist um 20 Uhr, Einlass ist ab 19 Uhr. Der Eintritt ist frei, um Spenden wird gebeten. Platzreservierungen sind unter Telefon 0176/72525903 möglich.
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