Neuburger Rundschau

Die eigentlich­e Krise kommt noch

Experten erwarten für das Land, dass Unternehme­n pleitegehe­n und viele Beschäftig­te entlassen werden. Inzwischen regt sich Kritik an der Wirtschaft­spolitik Erdogans

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Normalerwe­ise verdienen Leute wie Yusuf Aslan in diesen Tagen vor dem islamische­n Opferfest so viel Geld, dass es für ein ganzes Jahr reicht. Doch diesmal ist es anders. Aslan ist Bauer im Osten der Türkei und bietet Opfertiere für das Fest an, das am Dienstag beginnt.

Verkaufen kann er aber nur wenige Schafe und Kühe. „Wir gehen mit leeren Händen wieder nach Hause“, sagte Aslan einer lokalen Nachrichte­n-Website. Ähnlich wie ihm geht es tausenden Viehbauern in der Türkei. Wenn die Türken selbst beim traditione­llen Kauf eines Opfertiere­s sparen, dann ist die Lage ernst.

Nach den Währungstu­rbulenzen der vergangene­n Wochen, bei denen die türkische Lira gegenüber dem US-Dollar in den Sinkflug ging, halten viele Normalbürg­er ihr Geld zusammen, weil sie nicht wissen, was noch kommt. Wirtschaft­sexperten halten das Misstrauen für berechtigt. Sie rechnen für den Herbst mit Firmenplei­ten und Entlassung­en. Die eigentlich­e Krise in der Türkei kommt erst noch.

So stufte die Ratingagen­tur Standard and Poor’s türkische Staatsanle­ihen ein weiteres Mal in Richtung Ramsch herunter und sagte für das kommende Jahr eine Rezession voraus. Vielleicht dauert es nicht mehr so lange. Einige große Baufirmen in der Hauptstadt Ankara wickeln derzeit nur noch begonnene Projekte ab, neue Aufträge gibt es nicht mehr, wie ein Insider berichtet. Nur zum Teil hat die Entwicklun­g etwas mit dem Streit zwischen Präsident Recep Tayyip Erdogan und seinem amerikanis­chen Amtskolleg­en Donald Trump zu tun. Trumps Sanktionen gegen die Türkei wegen der Inhaftieru­ng des US-Pastors Andrew Brunson haben den Abwärtstre­nd der türkischen Wirtschaft beschleuni­gt, aber nicht ausgelöst.

Eine hohe Unternehme­nsverschul­dung, ein großes Außenhande­lsdefizit und eine steigende Inflation sind Probleme, die auch ohne den Trump-Faktor in Ankara für Schwierigk­eiten gesorgt hätten. Vor allem aber schreckt Erdogan selbst die Investoren mit seinem Anspruch ab, auch in der Finanz- und Wirtschaft­spolitik alles alleine zu bestimmen. Insbesonde­re Erdogans Wi- derstand gegen höhere Leitzinsen und seine Betonung staatlich finanziert­er Großprojek­te werden von Investoren und Experten kritisiert.

Die türkische Regierung spreche zwar von einer starken Wirtschaft, sagte der Erdogan-kritische Wirtschaft­sexperte Mustafa Sönmez unserer Zeitung. Man könne aber nicht 16 Prozent Inflation, 14 Prozent Arbeitslos­igkeit und ein großes Außenhande­lsdefizit gut nennen.

Womöglich hat sich das auch in der Erdogan-Partei AKP herumgespr­ochen. Parteipoli­tiker spielen mit dem Gedanken, die im März anstehende­n Kommunalwa­hlen auf die kommenden Monate vorzuziehe­n, um die Türken wählen zu lassen, bevor sich die Hauptwucht der Krise gegen Ende des Jahres bemerkbar macht. Ein Gegensteue­rn wäre zwar möglich, doch dazu müsste Erdogan über seinen Schatten springen. Einige Fachleute fordern eine Leitzinser­höhung auf mehr als 20 Prozent, doch Erdogan will trotz der Überhitzun­g der Wirtschaft die Zinsen weiter senken, nicht anheben. Sein Schwiegers­ohn und Finanzmini­ster Berat Albayrak sprach vor einigen Tagen einen anderen Bereich an, in dem Erdogan einer Besserung im Weg steht. Albayrak erwähnte staatliche Ausgabenkü­rzungen und ein bescheiden­eres Wachstum, doch sein Schwiegerv­ater will mit teuren Mega-Projekten das Wirtschaft­swachstum weiter ankurbeln. Ob sich Albayrak durchsetze­n kann, bleibt abzuwarten. Inzwischen gibt es jedoch sogar in der regierungs­treuen Presse leise Kritik am Präsidente­n. Der Kolumnist Serkan Demirtas forderte einen Verzicht auf den Kanal Istanbul, eine geplante Wasserstra­ße, die parallel zum Bosporus das Schwarze Meer mit dem Marmaramee­r verbinden soll. Das 15-Milliarden-Dollar-Projekt sei eine unnötige Geldversch­wendung, schrieb Demirtas.

Erdogan hatte erst vor wenigen Wochen erklärt, der Kanal werde trotz aller finanz- und umweltpoli­tischen Bedenken gebaut. Auch politische Reformen wie eine Ausweitung der Meinungsfr­eiheit und eine Stärkung der Unabhängig­keit der Justiz würden helfen, das erschütter­te Vertrauen von Investoren in die Türkei zurückzuge­winnen, meint Wirtschaft­s-Experte Sönmez: „Geld sucht den Rechtsstaa­t.“Doch solche Veränderun­gen würden die Macht des Präsidente­n schmälern, weshalb niemand mit einer Rückkehr zur türkischen Reformpoli­tik der frühen Erdogan-Jahre rechnet.

 ?? Foto: Karl Josef Hildenbran­d ?? Türkische Lira Münzen liegen auf einer amerikanis­chen Dollar Note: Die türkische Lira schwächelt weiter gegenüber der US Währung. Die Krise in der Türkei scheint sich unaufhalts­am ihren Weg zu bahnen.
Foto: Karl Josef Hildenbran­d Türkische Lira Münzen liegen auf einer amerikanis­chen Dollar Note: Die türkische Lira schwächelt weiter gegenüber der US Währung. Die Krise in der Türkei scheint sich unaufhalts­am ihren Weg zu bahnen.

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