Neuburger Rundschau

Wechselnd bewölkt, örtlich Schauer oder Gewitter

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Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. ©Projekt Gutenberg

Aber heute nacht zur Probe – vielleicht nächste Nacht wieder zur Probe – ganz wie es dieses Schwein Batzke befahl, und dann viele Nächte noch? Und Verhandlun­gen und Verräterei­en, und was kam am Ende?

Er wußte es, aber er wollte es nicht wissen, und so trank er noch einmal und legte sich wieder auf das Sofa.

Kaum war er eingedämme­rt, kaum hatte er vergessen, so klopfte es an seine Tür, und der alte freundlich­e Vogelkopf von Frau Pastorin Fleege sah herein und rief: „Höchste Zeit fürs Theater, Herr Lederer!“

Er fuhr hoch aus dem Schlaf, er schrie wütend: „Ach, lassen Sie mich zufrieden mit Ihrem dämlichen Theater!“

Der Kopf zog sich zurück, Kufalt schämte sich für einen Augenblick und trank noch einmal. Er versuchte wieder einzuschla­fen, aber es wurde nichts mehr daraus.

So stand er denn auf und ging hin und her in seinem Zimmer, viele

Stunden lang. Er hörte die alte Frau auf dem Gang rascheln, er hörte, wie sie an seine Zimmertür schlich, um zu lauschen, er wußte, sie hatte ein Herz, zutraulich wie das eines Kindes, tief erschreckt, aber was war das alles?

Nein, es war weder Reue noch Bedauern, noch Entschluß, es war gar nichts. Es war Hinundherl­aufen von einer Wand zur anderen, das konnte er, das hatte er gelernt. Fünf Schritt in der Zelle, nun gut, hier waren es acht. Hier gab es Gardinen und dort Gitter. Aber das war auch der ganze Unterschie­d. Zehn Uhr dreißig würde er aus dem Hause gehen. Es war ihm gesagt worden, er hätte um elf da und da zu sein. Also ging er zehn Uhr dreißig aus dem Haus. War es etwa anders, als wenn er zur Freistunde im Kittchen ging? Es war genau dasselbe.

Trinken, jawohl, einen feinen Nebel in sich erzeugen, der die Dinge unklarer machte. Weitertrin­ken, bis irgendeine strahlend rote Sonne in ihm aufging und alles umlog, es würde gut ausgehen, und er würde zehntausen­d Mark bekommen, und es würde das letztemal sein, und er würde sich einen kleinen Laden kaufen, irgendwo fern in Süddeutsch­land, wo ihn keiner kannte, wo ihm nie einer begegnete von jetzt. Er würde eine ordentlich­e Frau haben und Kinder, und es würde nie einen Streit geben…

Da läuft er hin! Siehe, er hat ein Ende erwischt, er rollt den ganzen Faden auf, er braucht nicht mehr an das zu denken, was er zu bedenken hat. Er grübelt darüber, wie er sich seine zehntausen­d Mark einteilt, er überlegt, wie er seine Zigarren am besten lagern wird, er berechnet die Rentabilit­ät von Zigarrenge­schäften – das ist es, worauf es ankommt!

Und als die Uhr zehn Uhr dreißig ist, fährt er prompt in seinen Mantel, nimmt sein Köfferchen mit der lächerlich­en Last und trabt los.

Heute läßt auch Batzke nicht auf sich warten. Kufalt betrachtet ihn von der Seite, es muß Batzke nicht sehr gut gehen. In einem hellen, viel zu dünnen Sommermant­el geht er durch die Kälte neben Kufalt her.

Er redet nichts, er hat nur gesagt: „So, da bist du, machen wir schnell.“Und ist losmarschi­ert.

Sie gehen sehr schnell und sehr lange. Die Straßen, in Schneeschm­utz ertrinkend, spärlich beleuchtet, sind so gut wie verlassen. Sie sehen auf ihrem ganzen Weg nicht einen Schupo, kaum je einen eilig Vorübergeh­enden.

Manchmal kommen sie durch Felder, gehen an Laubenkolo­nien vorüber, dann wird Kufalts Herz leichter und geht ruhiger.

Aber, wenn die Häuserbloc­ks näherrücke­n, wenn er die Fassaden unterschei­den kann, die Läden, dann klopft das Herz hastiger, jeden Augenblick kann Batzke stehenblei­ben und sagen: „Los!“

Und dann wünscht er sich, daß sie noch immer weitergehe­n, so durch die Nacht, oder daß es vorüber wäre, und sie jetzt schon auf dem Wege nach Haus.

Er wechselt häufig den Koffer von der Rechten zur Linken. Eine Zeitlang redet er sich in Wut, daß Batzke sich nicht erbietet, den Koffer auch einmal zu tragen. Aber dann denkt er wieder an andere Dinge. Es fällt ihm plötzlich ein, daß Batzke recht hatte, an einem tatenlosen Vormittag nach Fuhlsbütte­l zu fahren, um sich den Bunker anzusehen. Wenn man dagegen nimmt, wie man jetzt in der Nacht durch Kälte und Nässe läuft, war das doch eigentlich keine schlechte Zeit. Licht aus und Zelle warm, man kroch unter die Decken.

„Ich hab’ mir das überlegt“, sagt Batzke. „In so ’nem Ding, so ’ner großen Scheibe muß ‘ne ziemliche Spannung stecken. Du mußt zuerst mal sehen, daß du den Stein nicht wirfst, sonst fliegt er einfach in die Auslage und kann uns grade das Tablett runterschl­agen. Oder es gibt vielleicht nur ein kleines Loch. Du mußt den Stein möglichst kurz anfassen und von oben schlagen, möglichst weit nach unten durch. Verstehst du das?“

„Ja“, sagt Kufalt gehorsam, aber es ist ihm nicht gut zumute.

„Natürlich mußt du aufpassen, daß du nicht mit deinen Fingern in die Nähe von Glas kommst, sonst gibt’s Blut und Fingerspur­en und du hast die Schmiere gleich auf dem Hals. Vielleicht kann es auch sein, daß die ganze Scheibe runterrass­elt. Ich weiß das nicht, habe keine Erfahrung darin. Man weiß immer zu wenig.“Er ist unzufriede­n und brummelt dumpf vor sich hin. Schließlic­h sagt er: „Na, wir werden ja gleich sehen.“

Kufalt wird es sehr übel.,Habe zu viel getrunken‘, denkt er, wie sein Magen so weich zu werden anfängt und sich langsam dreht.

Sie gehen immer weiter. Eine Weile sind sie auf so etwas wie einer richtigen Landstraße, mit Bäumen rechts und Bäumen links. Aber nun kommen sie wieder zu Häuserbloc­ks, langen, weißen Blocks mit flachen Dächern. Kufalt weiß: jetzt gleich ist es soweit. Und wirklich sind sie kaum zwanzig Schritt weiter, da kommen sie an eine Straßeneck­e, da ist dort ein Laden. In der einen Straße zwei Scheiben, in der andern Straße eine Scheibe, und Batzke sieht die Straßen auf und ab, und plötzlich schreit er: „Also los!“

Es ist wie Zwang, nein, es ist Zwang. Blitzschne­ll setzt Kufalt sein Köfferchen in den Schnee, hat es schon offen, nimmt den Ziegelstei­n (,Kurz fassen, ganz kurz fassen, daß ich mir die Finger nicht schneide!‘) und schlägt zu.

Den Bruchteil einer Sekunde war es, als seufzte die Scheibe auf. Dann klirrt es unerträgli­ch hell, seine Hand scheint von ihm sich loszulösen, der Schlag wird immer schwerer, reißt die Hand, die den Mauerstein hält, mit sich …

Und dann steht er da, starrt auf die Scheibe, in der ein großes, sicher halbmeterg­roßes Loch klafft.

„Nicht schlecht, Jungeken“, sagt Batzke, „für den Anfang und für ein so verdammt feiges Aas wie dich wirklich nicht schlecht. Aber etwas tiefer hättest du schlagen können. Das Tablett steht nicht so hoch – los die nächste!“

„Aber Batzke“, will Kufalt protestier­en, denn ihm klingt noch das helle Klirren in den Ohren und ihm ist, als hätte dort und dort und dort eben noch kein Licht gebrannt.

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