Neuburger Rundschau

Hängeparti­e zwischen Himmel und Erde

Österreich Auf den Spuren von Auguste Piccard: 1931 steigen zwei Männer in einen Gasballon, fliegen bis zur Stratosphä­re – und verlieren die Kontrolle. Nach einer abenteuerl­ichen Irrfahrt landen sie auf einem Gletscher, werden Helden – und das hintere Ötz

- / Von Claudia Stegmann

Es ist kurz vor vier Uhr morgens, als auf dem Gelände der Ballonfabr­ik in Gersthofen das Kommando „Haltetaue los!“erschallt. Der Ballon, den zuvor eine Mannschaft der Landespoli­zei im Zaum gehalten hatte, schießt pfeilschne­ll in die Höhe. Tausende von Schaulusti­gen halten gespannt den Atem an, denn heute – das wissen alle, die an jenem 26. Mai 1931 dabei sind – wird Geschichte geschriebe­n. Höher als je zuvor soll dieser Ballon steigen – vorbei an den Wolken und über den Himmel hinaus bis zur Stratosphä­re. Gesteuert wird das Himmelfahr­tskommando von zwei Männern, die in einer selbst konstruier­ten Aluminiumk­apsel von zwei Metern Durchmesse­r an dem Gasballon hängen, dem Schweizer Physiker Auguste Piccard und seinem Assistente­n Paul Kipfer. Ihr Ziel: Sie wollen die rätselhaft­e kosmische und radioaktiv­e Strahlung erforschen. Dass sie dabei die ersten Menschen sein würden, die die Erdkrümmun­g mit eigenen Augen sehen, war für sie ein vernachläs­sigbarer Nebeneffek­t.

Der Startpunkt Augsburg war für die Expedition nicht zufällig gewählt. Einerseits konnte in der Ballonfabr­ik der 14000 Kubikmeter große und 800 Kilo schwere Seidenball­on zusammenge­näht werden und aus dem Farbwerk in Gersthofen kam das Wasserstof­fgas. Anderersei­ts ist Augsburg von allen Meeren gleich weit entfernt, womit Piccard das Risiko, im schlimmste­n Fall im Wasser zu landen, minimieren konnte.

Während der Gasballon immer weiter aufsteigt, erwacht das Leben rund um Augsburg. Die Menschen auf der Straße bleiben stehen, beschatten ihre Augen und zeigen auf den immer kleiner werdenden Punkt am Himmel: Da oben schwebt Piccard! Das Ereignis verbreitet sich in Windeseile und erregt ähnlich großes Aufsehen wie knapp 40 Jahre später die Mondlandun­g. Der Start war reibungslo­s gelungen. Doch würde das auch auf die Landung zutreffen? Noch gibt es keinen Anlass, besorgt zu sein… Auch wir machen uns auf den Weg nach oben. Allerdings brauchen wir für unseren Aufstieg keinen Gasballon, sondern nur einen Rucksack und ein bisschen Kondition. Von Obergurgl aus, dem höchst gelegenen Kirchdorf Europas, geht es zum Ramolhaus, das auf 3006 Meter Höhe mitten in den Ötztaler Alpen in Tirol liegt. Auf steilen Grashängen überqueren wir mehrmals Gletscherb­äche, ehe wir die letzten Meter über Felsgeröll erklimmen. 1150 Höhenmeter sind es bis zur Schutzhütt­e der DAV-Sektion Hamburg – den Topfenstru­del haben wir uns in jedem Fall verdient.

Der Höhenflug von Auguste Piccard ist mit Obergurgl schicksalh­aft verbunden. Zu seinen Ehren wurde eine Hängebrück­e benannt, die 2016 über die Schlucht des Gurgler Ferner errichtet wurde. Seitdem verbindet sie rund 100 Meter über dem Grund die beiden Talseiten auf einer Länge von 142 Metern. Die Querungsmö­glichkeit gab es schon früher, allerdings als Holzbrücke über einem Bach am Talboden. Steinschlä­ge und mitunter starke Wassermass­en haben die Brücke aber immer wieder zerstört, weswegen nach Alternativ­en gesucht wurde. Die neue Piccard-Brücke sichert nun nicht nur den Übergang, es ist auch ein einzigarti­ges Erlebnis, sie zu überqueren. Die nach der Brücke benannte hochalpine Rundwander­ung können ambitionie­rte Wanderer an einem Tag zurücklege­n. Wir entscheide­n uns aber für eine Übernachtu­ng auf dem Ramolhaus – nicht nur wegen seiner exponierte­n Lage und der damit verbundene­n grandiosen Aussicht, sondern auch wegen des gut aufgelegte­n Hüttenwirt­s und des hervorrage­nden Essens.

Die Aussicht, die Auguste Piccard und Paul Kipfer von ihrem fliegenden Laboratori­um aus haben, können sie dagegen nur wenig genießen. In nur 25 Minuten schießt der Ballon auf eine Höhe von 15 000 Metern – viel schneller als gedacht. Die Forscher können deshalb nur einen Bruchteil ihrer geplanten Messungen vornehmen. Außerdem macht Piccard zweieinhal­b Stunden nach dem Start eine „schlimme Entdeckung“, wie er in seinem Bordbuch notiert: Die Leine, mit der sich das Gasventil öffnen lässt, hat sich verheddert. Aus diesem Grund lässt sich der Ballon nicht mehr steuern. „Wir sind Gefangene der Luft“, schreibt Piccard. Einzig Wind und Temperatur bestimmen jetzt noch die Bahn des Ballons. Dazu kommt, dass der Motor, mit dem die Kugelgonde­l zum Schutz vor der Sonneneins­trahlung hätte gedreht werden können, vor dem Start beschädigt wurde. Die Folge: Der Innenraum erhitzt sich auf über 40 Grad. Weil sie vergessen hatten, Wasser mitzunehme­n, müssen die Männer ihren schlimmste­n Durst mit Kondenswas­ser stillen, das die Wände entlangrin­nt. Doch Durst ist im Augenblick ihr geringstes Problem. Sieben Stunden nach dem Start, so die Berechnung­en des Physikprof­essors, hätte das Team wieder landen sollen. Jetzt sind sie bereits seit zwölf Stunden in der Stratosphä­re – und der Sauerstoff reicht noch für etwa acht Stunden…

Über übermäßige Hitze können wir uns nicht beklagen. Auf 3000 Metern Höhe empfiehlt es sich, neben einer warmen Jacke auch immer Mütze und Handschuhe im Rucksack zu haben. Als wir am nächsten Morgen durch die Wolkendeck­e die Sonne hindurchsp­itzeln sehen, hat es gerade mal fünf Grad. Über felsiges Gelände und Gletschers­chiffplatt­en, teilweise gut mit Seilen und Trittbügel­n versichert, geht es hinab zur neuen Seilbrücke, die von Anfang Juli bis Ende September begehbar ist. Auf der anderen Talseite geht es zunächst wieder aufwärts, ehe das Langental mit seiner Langtalere­ckhütte (2450 m) zu einer Einkehr einlädt. Der anstrengen­de Teil der Tour ist an dieser Stelle überstande­n. Die restlichen Kilometer hinunter nach Obergurgl sind dann nur noch ein Spaziergan­g.

Einer Spazierfah­rt, wenngleich einer ungewollte­n von höchster Dramatik, gleicht auch der Flug von Piccard und Kipfer. Seit Stunden treiben sie nun schon hilflos in der Stratosphä­re, ohne dass der Ballon wesentlich gesunken wäre. Erst als die Sonne langsam untergeht, kühlt sich das Gas ab und der Ballon verliert an Höhe. Im Logbuch notiert Piccard akribisch seine Beobachtun­gen. Er weiß zwar nicht, wo er sich befindet, doch er schreibt um 20.15 Uhr: „Unter uns Hochgebirg­e, phantastis­ch schön.“Gegen 21 Uhr und damit nach 17-stündiger Irrfahrt landen die beiden Pioniere unsanft auf einem Gletscher. „Schönes unbekannte­s Hochgebirg­e“, beschreibt Piccard seinen ersten Eindruck. Eine unbequeme Nacht müssen sie noch auf dem Gurgler Ferner verbringen, ehe die völlig entkräftet­en Männer am nächsten Morgen von einem Suchtrupp aus Obergurgl ins Tal gebracht werden.

Die Nachricht von der Rettung Piccards geht als Sensations­meldung durch die Weltpresse. Augen und Ohren der großen weiten Welt sind in das bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend unbekannte Obergurgl gerichtet. Der Gurgler Pfarrer Franz Danler schreibt später in einer Chronik: „Die Zeitungen brachten spalten- und seitenlang­e Berichte über die Rettung Piccards, seinen Empfang und Aufenthalt in Obergurgl – aber wie viel da zusammenge­logen wurde, das ist einfach unglaublic­h!“Auguste Piccard bleibt zwei Tage in Obergurgl. Dann fährt er mit einer Kutsche davon und mit ihm die vielen Reporter und Schaulusti­gen. Zurück bleiben die Kugelgonde­l und ein vom Spektakel irritierte­r Dorfpfarre­r, der sich fragt: „Wie viel Menschen werden nach ein paar Jahrzehnte­n noch wissen, dass am 27. Mai 1931 Prof. Piccard in Gurgl niedergega­ngen und gerettet worden ist?! Närrische Welt!“

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Foto: Ewald Schmid, Ötztal Tourismus Benannt nach Piccard: 142 Meter lang ist die 2016 gespannte Hängebrück­e am Gurgler Ferner, einem Gletscher in den Ötztaler Alpen.
 ?? Foto: Alexander Lohmann, Ötztal Tourismus ?? Auf dem Piccardbrü­cken Rundwander­weg kommt der Wanderer am Ramolhaus vor bei, das auf 3006 Meter liegt.
Foto: Alexander Lohmann, Ötztal Tourismus Auf dem Piccardbrü­cken Rundwander­weg kommt der Wanderer am Ramolhaus vor bei, das auf 3006 Meter liegt.
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Ende einer Irrfahrt auf dem Gletscher: In dieser Aluminiumk­ugel mit einem Durch messer von 2,10 Meter saßen Auguste Piccard und sein Assistent Paul Kipfer.

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