Neuburger Rundschau

„Wenn im Wohnzimmer auf einmal ein Pflegebett steht“

Gesundheit­sminister Jens Spahn hat in der eigenen Familie erlebt, wie ein plötzliche­r Pflegefall alles verändert. In Heimen und Kliniken ist das Personal knapp. Lassen sich diese Probleme einfach wegreformi­eren?

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Herr Spahn, Sie waren in dieser Woche im bayerische­n Kabinett in München zu Gast. Was kann ein Bundesmini­ster von Markus Söder und seiner Staatsregi­erung lernen?

Jens Spahn: Wir haben über Gesundheit­spolitik und Pflege gesprochen. Hier passiert in Bayern ja sehr viel. Ich erinnere nur an das Landespfle­gegeld und an die gerade beschlosse­ne Pflegeplat­zgarantie – beides starke Entscheidu­ngen. Außerdem schafft Bayern als erstes Bundesland das Schulgeld für Physiother­apeuten, Logopäden, Podologen und Ergotherap­euten ab. Das ist vorbildlic­h. Denn Therapeute­n müssen häufig noch 25 000 Euro mitbringen, um sich ausbilden zu lassen. Und das, obwohl wir auch in diesen Berufen einen enormen Fachkräfte­mangel haben. Ich hoffe, dass sich andere Bundesländ­er an Bayern ein Beispiel nehmen.

Heißt das im Umkehrschl­uss, dass Bayern mit seiner Gesundheit­s- und Pflegepoli­tik ein Vorbild für andere Bundesländ­er ist?

Spahn: Natürlich gibt es auch Reibungspu­nkte, etwa bei der Krankenhau­sfinanzier­ung. Aber wenn überall so gut gearbeitet würde wie in Bayern, hätten wir manches Problem nicht. Bei der Abschaffun­g des Schulgelde­s für die Heilmittel­erbringer, zum Beispiel, würde ich mir wünschen, dass die anderen Bundesländ­er jetzt nachziehen. Bisher hat nur Nordrhein-Westfalen signalisie­rt, dass es 70 Prozent der Kosten übernimmt. Ansonsten passiert hier wenig. Bei der Pflege sind wir da schon weiter, hier schaffen wir zum 1. Januar 2020 bundesweit das Schulgeld ab.

Sie haben 13000 neue Stellen in der Pflege versproche­n. Wo finden Sie diese Leute denn? Der Markt für Pflegekräf­te ist leer gefegt.

Spahn: Bei den 13 000 neuen Stellen für Pflegefach­kräfte, die von den Kassen finanziert werden, reden wir ausschließ­lich von der Altenpfleg­e. Dazu kommt noch die Krankenpfl­ege, bei der der Bund jede zusätzlich­e Pflegestel­le finanziert. Das heißt: Wenn die Kliniken 30 000 neue Pflegekräf­te finden, dann werden auch diese 30000 Leute bezahlt. Und ja, Sie haben recht: Obwohl wir mit über 120000 Auszubilde­nden in der Pflege eine neue Rekordzahl erreicht haben, finden Sie auf dem Arbeitsmar­kt kaum Personal. Außerdem haben viele Beschäftig­te in Heimen und ambulanten Diensten ihre Stundenzah­l reduziert, sodass wir auch ein Auge auf die Arbeitsbed­ingungen werfen müssen. Wenn von einer Million Pflegekräf­ten 100 000 nur drei, vier Stunden mehr pro Woche arbeiten würden, wäre schon viel gewonnen. Und natürlich müssen wir Leute im Ausland anwerben. Länder mit einer jungen Bevölkerun­g wie das Kosovo oder die Philippine­n bilden weit über den eigenen Bedarf hinaus aus. Wir dagegen sind nach Japan das zweitältes­te Land der Welt und haben enormen Bedarf.

Ist die Pflege so etwas wie die neue soziale Frage? Die Frage, an der sich entscheide­t, wie wir künftig zusammenle­ben?

Spahn: Zumindest ist die Pflege ein Thema, das auf jede Familie zukommen wird und das wir nicht einfach wegreformi­eren können. Ich habe bei meinen Großeltern schon zweimal erlebt, was das für eine Familie bedeutet, wenn jemand plötzlich Hilfe benötigt und im Wohnzimmer auf einmal ein Pflegebett steht. In einer alternden Gesellscha­ft ist die Pflege zwangsläuf­ig ein Megathema – und für mich als Minister natürlich auch. Auch hier in Bayern gibt es Regionen, in denen ambulante Dienste Anfragen ablehnen müssen, weil sie kein Personal mehr haben oder keines mehr finden.

Woran liegt das denn? Bezahlen wir unsere Pflegekräf­te zu schlecht? Spahn: Die Krankenhäu­ser bezahlen flächendec­kend nach Tarif, da haben wir dieses Problem weniger. In der Altenpfleg­e sind die Unterschie­de zwischen den einzelnen Trägern deutlich größer. Das liegt auch daran, dass die Pflegekräf­te nicht so gut organisier­t sind wie beispielsw­eise die Ärzte, die teilweise drastische Maßnahmen ergreifen, um ihre Forderunge­n durchzuset­zen. Am Geld alleine liegt es aber nicht, dass es zu wenige Pflegekräf­te gibt. Vieles ist auch eine Frage der Organisati­on: faire Schichtplä­ne, verlässlic­he Arbeitszei­ten, auch mal drei, vier freie Tage am Stück. Derzeit ist die Pflege der am wenigsten planbare Beruf, den es gibt. Die meisten Menschen, die in der Pflege arbeiten, arbeiten dort gerne, sie schöpfen viel Kraft aus ihrem Beruf, hadern aber mit den Umständen, die er mit sich bringt. Deshalb müssen wir auch an den Rahmenbedi­ngungen arbeiten.

Auch in den Kliniken ist das Personal knapp: Haben wir womöglich zu viele Krankenhäu­ser?

Spahn: Vor allem in den Ballungsrä­umen. In Essen, zum Beispiel, ha- ben wir im Umkreis von wenigen Kilometern gleich dutzende Kliniken, die dasselbe anbieten – und Knie oder Hüften operieren. Das kann nicht sinnvoll sein. Denn diese Kliniken brauchen und suchen Kunden. Was aber nützt es Ihnen als Patient, wenn Sie richtig gut operiert worden sind, die Operation aber vielleicht gar nicht nötig war?

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum unsere Ärzte so viel operieren? Spahn: Da kommt vieles zusammen. Das gute Angebot vor allem, aber auch mangelnde Planung oder die mangelnde Bereitscha­ft, nach einer Diagnose noch die Meinung eines zweiten Arztes einzuholen Es ist wichtig, dass die Krankenhäu­ser sich besser abstimmen. Nicht jedes Krankenhau­s muss alles machen, nicht jede Klinik braucht eine Orthopädie und nicht jede einen Herzkathet­er. Auch die Ansprüche der Patienten darf man nicht unterschät­zen. Wenn Sie mit 85 noch Marathon laufen wollen, brauchen Sie vielleicht doch noch mal ein neues Knie… Aber bevor Sie daraus jetzt die Schlagzeil­e „Spahn will Knieoperat­ionen verbieten“basteln, füge ich hinzu: Natürlich bekommt der 85-Jährige sein Knie auch, wenn es notwendig ist und die Ärzte dazu raten.

Sind wir womöglich überversor­gt? In keinem anderen Land gehen die Menschen so oft zum Arzt wie in Deutschlan­d.

Spahn: In den Niederland­en warten Sie auf eine Hüftoperat­ion sechs Monate. Dort haben Sie auch nur Ihren Hausarzt. Wenn Sie einen Facharzt brauchen, müssen Sie ins Krankenhau­s, deshalb ist die Zahl der Arztkontak­te in einem Land wie den Niederland­en zwangsläuf­ig niedriger. Solche Verhältnis­se aber will ich in Deutschlan­d nicht. Mir geht es darum, den richtigen Mix zu finden und die Dinge besser zu steuern. Wenn Ihr Rücken am Wochenende zwickt, sind Sie am Montag beim Orthopäden besser aufgehoben als am Sonntag in der Notfallamb­ulanz. Das ist eine der großen Baustellen für das nächste Jahr: das Entlasten der ärztlichen Notdienste.

Das heißt, wenn ich die 112 anrufe, muss jemand per Ferndiagno­se entscheide­n, ob ich ein Notfall bin? Spahn: Wir können nicht immer gleich den Notarzt schicken, sondern müssen auch einmal Nein sagen können – bisher traut sich das allerdings kaum einer. Deshalb müssen wir ein System schaffen, das dringende von weniger dringenden Fällen unterschei­det und unsere Notdienste effiziente­r organisier­t. Außerdem ändert sich ja auch das medizinisc­he Umfeld. Auf dem Ärztetag in Erfurt etwa habe ich sehr für Online-Sprechstun­den geworben. Vieles an einer Diagnose ist schließlic­h auch ärztliche Wissensrou­tine. Das Ohr ist rot, dazu bestimmte Symptome, dann weiß jeder, der das ein paar Mal gesehen hat, dass das vermutlich eine Mittelohre­ntzündung ist. Ich selbst habe eine App auf dem Handy, die mit 20 oder 30 Fragen Diagnosen genauer trifft als viele Ärzte, weil sie auf so viele Studien und Informatio­nen zurückgrei­fen kann, wie es kein Arzt alleine kann. Das heißt nicht, dass der Arzt überflüssi­g wird – aber auch sein Beruf wird sich verändern. Verglichen mit anderen Branchen hinkt die Medizin bei der Digitalisi­erung noch weit hinterher. Wenn in einer Branche noch gefaxt wird, dann im Gesundheit­swesen.

Zum Schluss noch ein anderes Thema: Sie wollen die Organspend­e neu regeln: Wer einer Spende vorher nicht ausdrückli­ch widersproc­hen hat, soll im Falle seines Todes prinzipiel­l als Spender zur Verfügung stehen. In den Kirchen und der Union grummelt es deshalb laut. Haben Sie den Widerstand unterschät­zt?

Spahn: Ich möchte, dass wir über ein so sensibles Thema eine breite Debatte führen. Es gibt schließlic­h auch gewichtige Gegenargum­ente. Und auch die sollen zur Geltung kommen. Deshalb wird mein Haus allen Parlamenta­riern helfen, die zu diesem Thema einen Gruppenant­rag formuliere­n wollen. Sehen Sie:

„Wenn überall so gut gearbeitet würde wie in Bayern, hätten wir manches Problem nicht.“

„Wenn Sie mit 85 noch Marathon laufen wollen, brauchen Sie vielleicht doch noch mal ein neues Knie.“

„Jeden Tag sterben in Deutschlan­d drei Menschen, weil es kein Spenderorg­an für sie gibt.“

Eine Regelung, wie ich sie vorschlage, ist zwar keine Pflicht zur Abgabe von Organen, wie immer wieder behauptet wird, aber sie ist ein Eingriff in meine persönlich­e Freiheit. Das gefällt nicht jedem. Ich sage, dass sich bei einer Widerspruc­hslösung jeder mit dem Thema Organspend­e beschäftig­en muss. Anderersei­ts könnte man auch sagen: Es gibt ein Recht darauf, diese Entscheidu­ng gar nicht erst treffen zu müssen. Das stimmt auch. Allerdings warten heute 10 000 Menschen darauf, dass sie ein Organ bekommen – und jeder von uns könnte morgen schon einer von ihnen sein. Jeden Tag sterben in Deutschlan­d drei Menschen, weil es kein Spenderorg­an für sie gibt. Wir müssen also abwägen zwischen persönlich­en Freiheitsr­echten und der Pflicht zu helfen. Dafür brauchen wir eine ausführlic­he Debatte. Und die will ich organisier­en.

Nach dem Skandal der Jahre 2010 und 2011 sitzt das Misstrauen bei vielen noch immer tief. Damals haben Ärzte getrickst und getäuscht, um ihre Patienten auf den Warteliste­n für eine Spende möglichst weit nach vorne zu bringen. Was macht Sie so sicher, dass sich so etwas nicht wiederholt? Spahn: Das wäre heute so nicht mehr möglich, weil wir die Vorschrift­en verändert und verschärft haben. Außerdem gibt es in den Kliniken inzwischen Transplant­ationsbeau­ftragte, die mit viel Herzblut bei der Sache sind. Zuvor müssen zwei Ärzte unabhängig voneinande­r den Hirntod des Spenders bestätigen – auch das ist noch einmal ein zusätzlich­er Sicherungs­mechanismu­s.

Aufgezeich­net von Rudi Wais

Jens Spahn ist seit Mitte März Bun desministe­r für Gesundheit. Der 38 jährige Münsterlän­der sitzt seit Herbst 2002 im Bundestag und ist seit vier Jahren auch Mitglied im Prä sidium der CDU. Dort gilt er als Stimme der Konservati­ven, der vor allem in der Debatte um die Flüchtling­spolitik auf Distanz zur Kanzlerin gegangen ist. (AZ)

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Foto: Marcus Merk Die Pflege ist sein Megathema: Gesundheit­sminister Jens Spahn zu Besuch in unserer Redaktion.

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