Neuburger Rundschau

„Wohnungsno­t trifft längst die Mitte der Gesellscha­ft“

Der steigende Bedarf an bezahlbare­n Wohnungen ist kein Großstadtp­hänomen, betont der Präsident des Deutschen Caritasver­bandes. Anders als die CDU-Generalsek­retärin sieht er die Lösung nicht allein in einem freien Markt. Nur neu zu bauen helfe nicht

- Interview: Daniela Hungbaur

Herr Neher, Sie sind Präsident des Deutschen Caritasver­bandes. Die Wohnungsno­t wird als eines der drängendst­en Probleme bezeichnet – aber ist sie nicht nur ein Großstadtp­hänomen? Peter Neher: Nein, Wohnungsno­t ist nicht nur ein Großstadtp­hänomen. Not an bezahlbare­n Wohnungen gibt es beispielsw­eise auch in meiner Heimat im Ostallgäu. Es sind vor allem Boomregion­en betroffen. Dort trifft es dann auch die Menschen in Kleinstädt­en und im ländlichen Raum.

Sorgen Sie sich vor allem um die Geringverd­iener?

Neher: Nicht nur! Längst trifft die Wohnungsno­t die Mitte der Gesellscha­ft. Geringverd­iener sind ja leider schon seit vielen Jahren nahezu chancenlos auf dem Wohnungsma­rkt, da der soziale Wohnungsba­u vollkommen zum Erliegen gekommen ist. 1987 hatten wir noch 3,9 Millionen Sozialwohn­ungen in Deutschlan­d – 2015 waren es nur noch 1,3 Millionen. Mittlerwei­le finden aber auch immer mehr Menschen mit mittleren Einkommen keine bezahlbare­n Wohnungen mehr – Polizisten etwa, Krankensch­wester, Pfleger. Oftmals müssen sie mehr als ein Drittel ihres Einkommens für Miete und Wohnkosten aufbringen. Ganz besonders hart trifft es Familien. Daher haben wir als Caritas die Wohnungsno­t unter dem Motto „Jeder Mensch braucht ein Zuhause“zu unserem Jahresthem­a gemacht. Nun verspricht die Kanzlerin in den nächsten drei Jahren 1,5 Millionen neue Wohnungen. Reicht das?

Neher: Es hört sich zunächst gut an. Aber entscheide­nd wird sein, wie viele Sozialwohn­ungen entstehen.

Wie viele müssten es denn sein? Neher: Der Bedarf an Sozialwohn­ungen wird auf rund 120000 im Jahr geschätzt. Das heißt, von den 1,5 Millionen neuen Wohnungen müssten mindestens 360000 mit Sozialbind­ung sein. Denn man darf nicht vergessen, dass 40 000 bis 60 000 Wohnungen jährlich aus der Sozialbind­ung herausfall­en. Und diese 1,5 Millionen Wohnungen fallen ja nicht vom Himmel. Wir wissen, dass die Bauwirtsch­aft längst am Limit ihrer Leistungsf­ähigkeit ist. Hinzu kommt: Wo sollen die Grundstück­e herkommen? Das heißt, ich frage mich, ob 1,5 Millionen neue Wohnungen in drei Jahren überhaupt realisierb­ar sind. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es. Und haben Sie schon die aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung gesehen?

Sie besagt, dass Wohngeld, Mietpreisb­remse und sozialer Wohnungsba­u nur bedingt das Problem lösen.

Neher: Und, dass es allein in den zehn größten deutschen Städten ein Defizit von rund 880000 günstigen Wohnungen gibt. Gebaut werden aber nur rund 4700 pro Jahr. Bliebe die Förderung so, wie sie ist, würde es mehr als 185 Jahre dauern, bis die Lücke geschlosse­n ist. Sozialwohn­ungen würden aber vielen Menschen mit mittleren Einkommen nicht helfen, weil sie keine Berechtigu­ng für eine Sozialwohn­ung haben. Neher: Das stimmt. Daher fordern wir ja stets vor allem mehr bezahlbare Wohnungen und natürlich mehr Sozialwohn­ungen. Das ist eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe. Sie betrifft Bund, Länder und Kommunen genauso, wie Wohnungsge­sellschaft­en und private Vermieter.

Und wie soll das gelingen?

Neher: Was wir sehen ist, mangels lukrativer Anlagemögl­ichkeiten, eine Flucht des Kapitals in Immobilien. Und investiert wird dort, wo die höchsten Renditen erwirtscha­f- tet werden, im Hochpreiss­egment. Daher hilft es aus unserer Sicht nicht, nur neu zu bauen. Entscheide­nd sind bezahlbare Mieten.

Die SPD fordert unter dem Schlagwort „Mietenstop­p“, dass in Gebieten mit angespannt­em Wohnungsma­rkt die Mieten nur in Höhe der Inflations­rate steigen dürfen. Ein guter Vorstoß? Neher: Ich bin skeptisch. Es muss darauf geachtet werden, Instrument­e zu finden, damit einerseits die Mieten nicht zu stark steigen, anderersei­ts aber die Investoren nicht abgeschrec­kt werden. Ich halte den Vorschlag der Bundesregi­erung für sinnvoll, die Modernisie­rungsumlag­e zu kürzen. Das ist ein Beitrag dafür, dass einkommens­schwache Mieter nicht so einfach aus ihren angestammt­en Quartieren verdrängt werden können. Die Modernisie­rungsumlag­e wird ja oft dazu genutzt, Wohnungen auf Luxusnivea­u zu sanieren und damit dramatisch­e Mietsteige­rungen durchzuset­zen. Und ich finde, dass die Mietpreisb­remse ein gutes Instrument sein kann.

Sie hat aber doch offensicht­lich versagt und läuft nun Schritt für Schritt aus. Neher: Aber genau das halte ich für falsch. Die Mietpreisb­remse wurde vielerorts nicht konsequent umgesetzt. Außerdem gehört zwingend das Recht auf Transparen­z dazu. Das heißt, ich muss als Mieter erfahren können, was mein Vormieter bezahlt hat. Sonst kann ich mich doch gar nicht wehren. Man darf nicht vergessen: Wohnen ist Menschenre­cht. Die Politik hat über Jahre das Thema bezahlbare Wohnungen sträflich vernachläs­sigt.

Jetzt legt die Politik ja nach und will mit einem steuerlich­en Sonderbonu­s dafür sorgen, dass private Investoren mehr bezahlbare neue Mietwohnun­gen schaffen. Was halten Sie davon? Neher: Das ist ein wichtiger Beitrag. Denn tatsächlic­h fehlen Sonderabsc­hreibungen, wenn bezahlbare­r Wohnraum geschaffen wird.

Was fordern Sie noch von der Politik? Neher: Mir ist sehr wichtig, dass das Wohngeld dynamisier­t und erhöht wird, damit nicht mehr Menschen in Hartz IV fallen. Und die Obergrenze­n müssten niedriger werden, damit mehr Menschen Wohngeld erhalten.

CDU-Generalsek­retärin Annegret Kramp-Karrenbaue­r hat aber erklärt, die Wohnungsno­t mit den Mitteln des freien Marktes bekämpfen zu wollen. Neher: Also über diese Aussage kann ich mich nur wundern. Wir sehen doch gerade, was passiert, wenn man den Wohnungsma­rkt dem freien Spiel des Marktes überlässt: Es herrscht eine eklatante Not an bezahlbare­n Wohnungen. Die Politik hat genau das seit Jahren bedauerlic­herweise getan: Sie hat sich aus dem sozialen Wohnungsba­u so gut wie komplett zurückgezo­gen und den Wohnungsma­rkt einseitig der Immobilien- und Baubranche überlassen.

Die Menschen werden immer älter und wollen gerne in ihrer Wohnung bleiben. Müssten nicht auch viel mehr barrierefr­eie Wohnungen geschaffen werden? Neher: Da gebe ich Ihnen völlig recht. Wir bräuchten viel mehr steuerlich­e Anreize und Zuschüsse für den Bau von barrierefr­eiem Wohnraum, beziehungs­weise für die Sanierung mit diesem Ziel. Das ist vor allem auch Sache der Kommunen. Ganz wichtig finde ich, dass hier innovative Lösungen ausprobier­t werden, zum Beispiel das Tauschen von Wohnungen. Es gibt viele ältere Menschen, die nach dem Tod der Partnerin oder des Partners, oder dem Wegzug der Kinder allein in großen Wohnungen oder Häusern leben. Familien hingegen suchen verzweifel­t größere Wohnungen. Hier könnten Kommunen als Vermittler tätig werden, um Wohnraum besser zu verteilen. Veranstalt­ung Am 25. September veranstalt­et die Caritas der Diözese Augsburg eine Podiumsdis­kussion zum Thema Wohnungsno­t im Haus Sankt Ulrich in Augsburg. Beginn 19 Uhr.

Peter Neher, 63, ist pro movierter Theologe. Seit 2003 ist der frühere Pfarrer Präsident des Deutschen Caritasver­bandes.

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Foto: dpa Zehntausen­de demonstrie­rten in Mün chen gegen die Wohnungsno­t.
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