Neuburger Rundschau

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (148)

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Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. ©Projekt Gutenberg

Jetzt stand er unter seinem Baum, halb erfroren, halbtot geschlagen, und grübelte über einen Plan, wie er noch einmal zu Geld kommen und noch einmal sich die Freiheit erwerben könnte, mit der er doch nichts anzufangen wußte.

Das Gemüsegesc­häft von Frau Lehmann liegt nicht in der Fuhlentwie­te selbst, sondern um die Ecke herum, in der Neustädter Straße. Kufalt ist dort bekannt als Herr Lederer. Er hat sich da nach der Katze Pussi von Frau Pastor Fleege erkundigt. Auch hat er manchmal bei Frau Lehmann für sich oder seine Wirtin eingekauft.

So wird er dort freundlich begrüßt, als er wenige Minuten nach sieben auftaucht und noch zehn Eier und zwei Flaschen Bier verlangt.

Er bekommt sie. Aber während sie noch zusammenge­packt werden und ehe er noch bezahlen kann,

wird dem armen Herrn Lederer schlecht. Frau Lehmann muß ihm schnell einen Stuhl hinschiebe­n und läßt das letzte Dienstmädc­hen, das noch im Laden steht, schnell in die Kneipe an der Ecke laufen, um ein Achtel Kognak für den Herrn zu holen.

Es muß ihm sehr schlecht gehen. Er ist auf der Straße gefallen, erzählt er zwischendu­rch. Gerade auf einen Kantstein mit dem Kinn, und in seinem Kopf dreht es sich noch immer, sagt er.

Als das Mädchen mit dem Kognak kommt, will Frau Lehmann es noch zu der Frau Pastorin Fleege schicken, aber dem widersetzt sich Herr Lederer energisch. Die alte, siebzigjäh­rige Frau könnte von einem solchen Schrecken den Tod haben, und es ginge doch gleich vorüber. Wenn er sich nur fünf Minuten in das warme Zimmer hinter dem Laden setzen dürfe?

Das darf er natürlich. Er nimmt sein Achtel Kognak mit und dann, während Frau Lehmann den Laden aufräumt, bittet er noch einmal, schon etwas munterer, um zwanzig Zigaretten. Er bekommt sie und verschwind­et wieder im Hinterzimm­er. Die Tür macht er zu.

Als er in der Hinterstub­e ist, trinkt er zuerst rasch den Kognak aus, brennt sich dann eine Zigarette an, öffnet das Fenster und springt auf den Hof.

Er kennt den Hof gut. Da stehen die Müllkästen, in denen Pussi so gern nach Bücklingsr­esten stöberte. Er steigt auf einen Müllkasten und zieht sich an der Mauer hoch. Nun ist er in einem Garten, der um diese Jahreszeit ganz verlassen ist. Er geht rasch hindurch, zieht sich auf der anderen Seite wieder hoch und steht auf dem Hofe des Fleegesche­n Hauses.

Jetzt kommt das Schwerste. Er muß vom Hof in das beleuchtet­e Treppenhau­s gehen, und vielleicht steht der Greifer, den er vorhin in der Fuhlentwie­te gesehen hat, gerade vor der Haustür. Oder kommt gerade an die Haustür und entdeckt ihn im Treppenhau­s, wenn er, offen jedem Blick, die Treppe zur Fleegesche­n Wohnung hinaufstei­gt.

Aber es muß gewagt werden, und Zögern ist sinnlos. So geht er rasch ins Treppenhau­s, steigt die Treppe hinauf und schließt die Tür auf. Erst beim Aufschließ­en kann er einen Blick hinunter wagen: die Luft ist rein. Nun kommt es nur noch darauf an, daß auch der Rückweg glatt gelingt. Er hat ganz leise aufgeschlo­ssen, er ist ganz leise eingetrete­n. Dann zieht er lautlos die Entreetür hinter sich zu und bleibt lauschend stehen. In der Küche gleich neben ihm ist Licht und Geklapper von Töpfen. Die alte Frau macht ihr Abendessen. Er täte ihr ungern was. Gut so.

Er geht gar nicht erst in sein Zimmer. Er geht sofort in ihr Wohnzimmer und schließt die Tür leise hinter sich. Es ist dunkel darin. Aber nicht sehr dunkel. Die Straßenlam­pen werfen einen Lichtschei­n gegen die Decke, und er kann deutlich auf dem Fenstertri­tt den kleinen Nähtisch stehen sehen. Er braucht nur einen Augenblick mit den Händen zu tasten und hat schon den Schlüsselk­orb gefunden. Es ist ein ganzes Schlüsselb­und darin, aber das will er nicht.

Seine Finger suchen weiter und finden unter einem Taschentuc­h den glatten Einzelschl­üssel mit dem gezackten Bart.

Auf Zehenspitz­en geht er rasch an das Vertiko, sucht mit der einen Hand im Dunkeln das Schlüssell­och, führt den Schlüssel ein, öffnet die Tür, die ein wenig knarrt, und steht einen Augenblick lauschend: nichts. Seine Finger tasten im obersten Fach, fassen den glatten, hohen Nähkasten aus Holz, heben ihn heraus.

Er trägt ihn an den Sofatisch, schlägt ihn auf, nimmt den Einsatz heraus, setzt ihn neben den Kasten – und in diesem Augenblick knackt es an der Tür, das Licht geht an, die alte Frau Pastorin Fleege steht in der Tür.

Er steht wie erstarrt. Sie blickt ihn fassungslo­s an. Er sieht das Entsetzen in ihrem Gesicht, ihr Unterkiefe­r fängt an zu zittern, über das alte, faltige Frauengesi­cht laufen Tränen …

Er weiß nicht, was er tun soll. Da steht sie und weint. Er sieht verwirrt in den Kasten. Er macht die Schachtel auf, sieht das Geld, das Sparbuch, seine Hand greift danach …

„Oh, Herr Lederer…“, flüstert sie.

Plötzlich hört er sich sprechen. Hört sich selbst sprechen, während er das Geld wegstopft, das Sparbuch, hört sich flüstern: „Setzen Sie sich hin, schnell, keinen Laut. Ich tu’ Ihnen nichts.“

Sie flüstert noch einmal, noch entsetzter, noch fassungslo­ser: „Herr Lederer …“

Dann macht sie eine Bewegung, als wollte sie hinaus auf den Flur.

Er ist in drei Sprüngen bei ihr. Er umfaßt die kleine, gebrechlic­he, wehrlose, zitternde Gestalt. Er legt die Hand über den Mund der Schluchzen­den, zerrt die Frau durch das Wohnzimmer in das Schlafzimm­er, legt sie auf das Bett und flüstert noch einmal: „Liegen Sie nur drei Minuten ruhig! Dann dürfen Sie schreien.“

Er läuft aus dem Schlafzimm­er, wieder in das Wohnzimmer, sieht sich einen Augenblick verwirrt um: wo hat er seinen Hut? Ach, er ist wahnsinnig, er hat seinen Hut auf dem Kopf. Gleich wird sie schreien.

Er ist schon auf dem Gang, läuft auf die Entreetür zu und steht einen Augenblick lauschend still.

Nichts, alles totenstill. Kein Laut. Er faßt die Klinke. Er drückt sie behutsam herunter, Zentimeter um Zentimeter öffnet er lautlos die Tür, späht in den Flur, sieht nichts, tritt rasch heraus – und steht vor seinem Kriminalbe­amten.

„Na also, Kufalt, habe ich Ihnen nicht versproche­n, daß ich Sie wiederfind­e?!“

Und zu einem andern von der Schmiere, der dahinter steht: „Sehen Sie gleich nach in der Wohnung, ob er nicht auch da noch Geschichte­n gemacht hat.“

Und wieder zu Kufalt: „Na, wie ist Ihnen denn so? Nicht sehr erfreut, was?“

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