Neuburger Rundschau

„Mein Anliegen ist zum Anliegen vieler geworden“

Türkei Die Neu-Ulmer Journalist­in Mesale Tolu spricht vor dem nächsten Verhandlun­gstag über den Prozess gegen sie selbst, ihre Erfahrunge­n im Gefängnis in Istanbul und die Unterstütz­ung aus der deutschen Heimat

- Haben Sie keine Angst, festgehalt­en zu werden?

Mesale Tolu hat einen Termin-Marathon hinter sich. Friedrichs­hafen, Berlin, Düsseldorf. Und Zeit für die Familie soll auch noch bleiben. Die Journalist­in aus Neu-Ulm ist seit ihrer Rückkehr nach Deutschlan­d eine gefragte Gesprächsp­artnerin. 16 Monate wurde sie in der Türkei festgehalt­en, ihr Gerichtsve­rfahren wird bald fortgesetz­t. Trotzdem ist sie entspannt und gut gelaunt.

Frau Tolu, in der vergangene­n Woche war der türkische Präsident Erdogan in Deutschlan­d. Wie haben Sie seinen Staatsbesu­ch wahrgenomm­en? Mesale Tolu: Am Freitag war ich in Berlin, da habe ich den Konvoi gesehen. Ich bin es aus der Türkei gewohnt, dass Straßen gesperrt werden und Bewohner nicht in ihre Häuser kommen. Das kennen wir von unseren Politikern in Deutschlan­d nicht. Mich hat es an die Zeit in der Türkei erinnert, wo solche Bilder alltäglich waren.

Wie sollte Deutschlan­d mit Erdogan und mit der Türkei umgehen?

Tolu: Der Dialog muss aufrechter­halten werden, weil viele Menschen in der Türkei diese Unterstütz­ung von Deutschlan­d brauchen. Aber man muss schauen, wen man unterstütz­t. Nach dem Staatsbesu­ch hätte ich mir gewünscht, dass es auch Treffen mit der Opposition gibt. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Am 16. Oktober geht der Prozess gegen Sie weiter. Reisen Sie in die Türkei? Tolu: Es gibt die Erwägung, ich spreche es mit meinen Anwälten ab. Es geht um die Frage, ob meine Anwesenhei­t notwendig ist. Wenn ich hinfahre, wird mein Sohn in Deutschlan­d bleiben. Ich will ihn nicht lange alleine lassen. Das ist ein wichtiges Kriterium. Tolu: Der Weg in die Türkei steht mir offen, bis zu einem Urteil wird es noch lange dauern. Für meinen Mann gilt noch eine Ausreisesp­erre, die ich gerne aufheben lassen möchte. Wenn ich zum Prozess reise, ist das ein Zeichen für meine Glaubwürdi­gkeit. Ich zeige, dass ich nicht geflüchtet bin, sondern zurückkomm­e und mich stelle.

Gerade haben türkische Gerichte zwei Urteile gefällt, die nicht positiv sind für Journalist­en, die kritisch berichten. Was erwarten Sie von Ihrem Prozess? Tolu: Ich gehe davon aus, dass ich zu einer Haftstrafe verurteilt werde. Nicht, weil ich mich für schuldig halte, sondern aus der Erfahrung. Ich habe gesehen, dass viele Journalist­en wegen ihrer Tätigkeit zu sehr langen Haftstrafe­n verurteilt wurden. Jetzt ist die erschwerte lebenslang­e Haft für drei Kollegen bestätigt worden. Dagegen hat der Mann, der auf den Journalist­en Can Dündar schießen wollte, nur eine Geldstrafe von 650 Euro auf Raten bekommen. Das zeigt, wie willkürlic­h die Justiz in der Türkei urteilt.

Ihr Mann Suat Corlu darf die Türkei wegen einer Gerichtsen­tscheidung nicht verlassen. Wie geht es ihm?

Tolu: Ihm geht es gut, wir sprechen uns täglich. Auch mein Sohn spricht täglich mit seinem Vater. Mein Mann lebt seinen Alltag, er geht seinem Beruf nach. Anders kann man dort auch nicht leben. Man muss weiter arbeiten gehen. Es kann ja auch Jahre dauern, bis er ausreisen darf. Am 16. Oktober wird er vor Gericht stehen, im gleichen Verfahren wie ich.

Sie selbst saßen bis Ende 2017 monatelang in Haft – gemeinsam mit Ihrem kleinen Sohn. Was war in dieser Zeit am härtesten?

Tolu: Die Ungewisshe­it. Man kann nichts selbst bestimmen und ist nur darauf ausgericht­et, dass jemand ein Urteil fällt. Ich habe versucht, mich dem zu widersetze­n, indem ich weitergesc­hrieben und nicht aufgegeben habe. Ich habe mir die Hoffnung nicht nehmen lassen, dass ich irgendwann frei und mit meiner Familie vereint sein werde. Gegen die Ungewisshe­it zu kämpfen, ist das Wichtigste im Gefängnis. Denn sie kann zur Verzweiflu­ng führen. War der Kampf gegen die Verzweiflu­ng schwierig?

Tolu: Ja. Wenn man mit seinem Kind inhaftiert ist, lässt sich das schwer kontrollie­ren. Ein Kind denkt nicht wie ein Erwachsene­r. Es war schwer, meinem Sohn zu erklären, dass wir irgendwann wieder zu Hause sein können. Man kann es ja selbst nicht einschätze­n. Das hat zu Verzweiflu­ng geführt ab und zu. Aber ich habe immer versucht, dass die Hoffnung im Vordergrun­d steht.

Ihr Sohn ist jetzt drei Jahre alt. Wie haben Sie ihm die Situation erklärt? Tolu: Mein Sohn hat zuerst gedacht, dass es die Arbeit ist, wo wir sind. Aber ich habe versucht, das aus seinem Kopf zu bringen. Ich wollte nicht, dass er die Arbeit mit etwas Schlechtem verbindet. Ich habe ihm erzählt, dass es eine Zeit ist, in der wir hier sein müssen, auch wenn wir es nicht wollen. Dass wir nicht bestimmen können, wann wir rauskönnen. Genau begründet habe ich es nicht. Ich habe nur gesagt, dass die Zeit vergehen wird. So haben wir versucht, das zu überbrücke­n.

Tolu: Der Kontakt zum Vater, zu meinem Mann. Die Familie ist eine Stütze. Mein Mann ist ein aktiver Mensch, der Probleme lösen will. Diese Stütze hat uns gefehlt. Aber die politische­n Mithäftlin­ge haben uns unterstütz­t und uns Kraft gegeben. Sie waren für meinen Sohn bei allem da, was er gebraucht hat. Auch mich haben sie seelisch unterstütz­t.

Wie geht es Ihrem Sohn? Belasten ihn die Erfahrunge­n?

Tolu: Ja, er wurde sehr schwer belastet. Es gab immer wieder Symptome, die das gezeigt haben. Aber wir denken nicht mehr an das, was passiert ist. Wir schauen in die Zukunft. Wir sind in Deutschlan­d angekommen. Er geht hier in den Kindergart­en und hat die Eingewöhnu­ngsphase gut durchgemac­ht. Jetzt wollen wir auch den Papa hierher holen und versuchen, das alles als Familie zu verarbeite­n. Wir wollen für meinen Sohn alles besser gestalten.

Sie haben auch Unterstütz­ung aus Ulm und Neu-Ulm bekommen, wo Sie zu Hause sind.

Tolu: Das hat mich sehr gestärkt. Ich habe viele Briefe bekommen, auch von Menschen, die ich gar nicht kannte. Mir hat zum Beispiel die Mutter eines Schulfreun­des geschriebe­n, dass sie vier Kinder hat und dass ich ihr fünftes sein kann, wenn ich möchte. Das hat mich sehr gerührt und mir viel Hoffnung gegeben. Ich habe gespürt: Mein Anliegen ist zum Anliegen vieler Menschen geworden.

 ?? Foto: Sebastian Gollnow, dpa ?? Seit Ende August ist Mesale Tolu zurück in Deutschlan­d. In Ulm und Neu-Ulm hat sie wegen der zahlreiche­n Termine in ganz Deutschlan­d bislang wenig Zeit verbracht.
Foto: Sebastian Gollnow, dpa Seit Ende August ist Mesale Tolu zurück in Deutschlan­d. In Ulm und Neu-Ulm hat sie wegen der zahlreiche­n Termine in ganz Deutschlan­d bislang wenig Zeit verbracht.

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