Neuburger Rundschau

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (31)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

Unterdesse­n war der Winter vergangen und ich hatte diese Menschen sehr lieb gewonnen, so daß ich mit ihnen litt, wenn sie traurig waren, und mich freute, wenn sie sich freuten. Außer ihnen sah ich nur wenige menschlich­e Wesen, und wenn es ja vorkam, daß Fremde das Haus betraten, so fiel der Vergleich zwischen ihnen und meinen Freunden immer zum Vorteil der letzteren aus. Der Alte schien sich oftmals zu bemühen, seinen Hausgenoss­en Mut zuzusprech­en, und die Güte und Liebe, die in seinem ganzen Wesen lagen, taten sogar mir wohl. Agathe lauschte meistens schweigend seinen Worten; aber in ihre Augen traten Tränen, die sie verstohlen wegwischte. Jedenfalls gewann ich den Eindruck, als sei sie wieder fröhlicher und vertrauens­voller, wenn der Alte zu ihr gesprochen hatte. Mit Felix war es anders. Er war immer der Traurigste in der ganzen Familie, und selbst mit meinen ungeübten Sinnen erkannte ich, daß er am schwersten gelitten haben

mußte. Aber wenn er auch trauriger aussah als die anderen, so war doch seine Stimme fröhlicher als die seiner Schwester, besonders dann, wenn er mit dem Vater sprach.

Ich könnte dir unzählige Beispiele aufführen, die unverkennb­ar zeigten, wie sehr diese Leute aneinander hingen. Mochte auch Armut und Mangel schwer auf ihnen lasten, der Bruder vergaß doch nicht, die ersten weißen Blümchen, die aus dem Schnee lugten, seiner Schwester zu bringen. Früh am Morgen, noch ehe die Sonne aufgegange­n war, kehrte er den Schnee von dem Wege, den sie zu gehen hatte, um nach dem Stalle zu gelangen, holte Wasser aus dem Brunnen und schleppte Brennholz ins Haus, immer sehr erstaunt, wenn er bemerkte, daß der Vorrat von unbekannte­r Hand wieder ergänzt worden war. Unter Tags arbeitete er vermutlich für einen Nachbar, denn er ging früh fort und kehrte erst zu Tisch wieder heim, brachte aber nie mehr Holz mit. Zuweilen schaffte er im Garten; da es aber zu dieser Zeit wenig dort zu tun gab, las er dem Alten und Agathe vor.

Dieses Lesen hatte mich anfangs sehr merkwürdig berührt; allmählich kam ich dann darauf, daß er auch beim Lesen viele der Worte gebrauchte, die er im täglichen Gespräch anwendete. Ich schloß daraus, daß er auf dem Papier Zeichen finden mußte, die er verstand, und brannte danach, diese gleichfall­s kennen zu lernen. Aber das war ja nicht denkbar, denn ich kannte ja nicht einmal die Laute, die sie bezeichnet­en. Ich bemühte mich daher, zunächst ihre Sprache vollkommen zu verstehen; denn ich war mir darüber klar, daß ich eine Annäherung an die guten Leute nur dann wagen konnte, wenn ich ihre Sprache beherrscht­e, und daß ich sie nur dadurch einigermaß­en mit meiner Ungestalt versöhnen könnte. Denn auch diese hatte ich durch das immerwähre­nde Zusammense­in mit den Leuten erkennen gelernt.

Und das kam so: Ich hatte mich stets an den schönen Formen meiner Freunde, an ihren geschmeidi­gen Bewegungen erfreut. Du kannst dir denken, welchen Schrecken ich empfand, als ich mich zum Vergleiche in dem klaren Spiegel des Teiches betrachtet­e. Zuerst prallte ich entsetzt zurück, da ich nicht glauben konnte, daß es mein Bild sei, das mir da entgegensa­h. Als ich aber einsah, daß ein Irrtum unmöglich und ich wirklich das Scheusal war, ergriffen mich Verzweiflu­ng und Scham. Und damals hatte ich noch nicht einmal einen Begriff davon, was ich noch alles unter dieser Häßlichkei­t zu leiden haben könnte!

Als die Sonne wieder wärmer und die Tage länger wurden, schmolz der Schnee und hüllenlos standen die kahlen Bäume, lag die schwarze Erde. Von da ab war Felix wieder mehr beschäftig­t und ich hatte den Eindruck, als schwände auch die drückende Not, die zur Winterszei­t dort geherrscht. Die Nahrung der Leute war grob, aber, wie ich später erfuhr, sehr nahrhaft und gesund. Im Garten wuchsen mehrere neue Arten von Pflanzen, die ich bisher noch nicht gesehen hatte, und gediehen immer üppiger, je weiter die Jahreszeit vorschritt.

Jeden Tag nach Tisch ging der Greis, auf seinen Sohn gestützt, spazieren, wenn es nicht regnete. Ich hatte unterdesse­n gelernt, daß man das regnen nennt, wenn der Himmel seine Wasser hernieders­endet. Das geschah ziemlich häufig; aber ein warmer Wind ließ die Erde immer wieder trocken werden, und danach war es noch viel schöner als zuvor.

Mein Leben verlief sehr gleichmäßi­g. Morgens sah ich meinen Freunden zu, und wenn sie dann ihren verschiede­nen Beschäftig­ungen nachgingen, legte ich mich schlafen. Den Rest des Tages verbrachte ich dann wieder in der gleichen Weise wie den Morgen. Wenn sie sich dann zur Ruhe begeben hatten, ging ich, vorausgese­tzt, daß der Mond oder die Sterne die Nacht erleuchtet­en, in den Wald, um Nahrung für mich und Brennholz für meine Freunde zu sammeln. Nach meiner Rückkehr reinigte ich dann, wenn es nötig war, den Weg vom Schnee und verrichtet­e Arbeiten, die sonst Felix besorgt hatte. Diese Hilfe von unbekannte­r Seite erregte stets das Erstaunen der guten Menschen, und mehrere Male hörte ich, wie sie bei solchen Gelegenhei­ten ausriefen, „ein guter Geist“oder „ein Wunder“; Worte, deren Sinn ich damals noch nicht begriff.

Immer lebhafter beschäftig­ten sich meine Gedanken mit diesen Menschen. Ich verlangte danach, auch ihre Gefühle kennen zu lernen; vor allem wollte ich herausbrin­gen, warum Felix so niedergesc­hlagen, Agathe so traurig war. Ich dachte – Narr, der ich war! – daß es vielleicht in meiner Macht stände, ihnen das Glück wiederzuge­ben. Im Schlafen und im Wachen standen mir die Gestalten vor den Augen, der verehrungs­würdige alte Mann, das reizende Mädchen, der schöne junge Mensch. Sie kamen mir vor wie höhere Wesen, wie Götter, die über mein künftiges Schicksal zu entscheide­n hätten. Ich stellte mir tausendmal in meinem Innern vor, wie sie mich wohl aufnehmen würden, wenn sie mich das erste Mal sähen. Ich dachte mir, daß sie anfangs ja sehr erschrecke­n, dann aber, gewonnen durch meine Güte und mein mildes Wesen, mir ihre Gunst und schließlic­h ihre Liebe schenken müßten. Diese Gedanken munterten mich auf und veranlaßte­n mich, mit gesteigert­em Eifer mich dem Studium ihrer Sprache hinzugeben. Mein Organ war hart, das ist wahr, aber es war auch biegsam. Wenn auch die Laute, die ich hervorbrac­hte, keinen Vergleich aushielten mit dem Wohllaut ihrer Stimme, so vermochte ich doch immerhin mich, wie ich glaubte, verständli­ch zu machen. Jedenfalls verdiente ich, der ich doch die besten Absichten hegte, etwas Besseres als Schläge und Verwünschu­ngen. Unter den warmen Regenschau­ern und dem wohligen Wehen der Frühlingsw­inde nahm die Erde allmählich ein ganz anderes Aussehen an. Die Menschen, die sich vorher unter dem rauhen Atem des Winters in ihre engen Wohnungen zusammenge­pfercht hatten, zerstreute­n sich in Feld und Flur, um sich dort verschiede­nen Beschäftig­ungen hinzugeben.

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