Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln
Rolando Peceros aus Rain trifft in Australien nach 51 Jahren zum ersten Mal seinen Vater, seine Schwestern, seinen Neffen und andere Angehörige. Warum er so lange nichts von ihnen wusste
Rain Rolando Peceros aus Rain gehört nicht zu den Menschen, die es – von Reiselust getrieben – ständig in die Ferne zieht. 19 Jahre ist sein letzter Auslandsurlaub her. Neben seiner Arbeit, seinen drei Kindern und seiner ehrenamtlichen Tätigkeit für den TSV Rain bleibt ihm oft nicht viel Zeit, die Nase in den Wind zu stecken. Doch heuer im Sommer war das anders. Ganz anders.
Am 29. September stieg er ins Flugzeug mit dem Ziel Sydney in Australien. Sein Trip dorthin dauerte 23 Stunden und bedeutete mehr für ihn, als lediglich die Überwindung von 16 000 Kilometern Luftlinie. Sie führte ihn zu seinen eigenen Wurzeln und damit ein Stück weit auch zu sich selbst, denn er hat dort in der australischen Metropole seinen Vater zum ersten Mal überhaupt getroffen – nach 51 Jahren.
Rolandos Geschichte beginnt noch vor seiner Geburt. Seine Mutter Maria Peceros aus Rain war damals bei einer siebenköpfigen Starnberger Familie in Stellung, kümmerte sich um die fünf Kinder und den Haushalt und schloss sich ihr an, als diese 1965 berufsbedingt nach Amerika auswanderte. Im Sprachunterricht in Philadelphia (US-Staat Pennsylvania) lernte sie Rolando Peceros, einen Einwanderer aus der peruanischen Hauptstadt Lima, kennen. Die beiden verliebten sich, heirateten, und schon bald war Maria Peceros schwanger.
„Ehe mein Sohn zur Welt kam, wollte ich noch einmal meine Angehörigen in Rain besuchen“, erinnert sich Maria Peceros (77). Doch aus dem kurzen Abstecher in die Heimat wurde letztlich eine Rückkehr für immer. Denn ihr peruanischer Ehemann teilte ihr per Telegramm kurz und bündig mit, dass er die Ehe nicht fortsetzen wollte. „Möglicherweise hatte er damals schon eine neue Familie“, mutmaßt Maria Peceros.
Ihr Sohn Rolando wurde 1976 in Rain geboren und wuchs auch dort auf – mit Mutter, Oma, Tante und jüngeren Cousins –, ohne einen Vater zu vermissen. „Irgendwann hat mir meine Mutter erzählt, dass er in Amerika ist und in meiner kindlichen Vorstellung damals hab’ ich mir eingebildet, er sei ein Indianerhäuptling“, muss Rolando (51) heute schmunzeln. „Ich hab’ ihn nicht vermisst, weil ich ihn ja gar nicht gekannt habe. Und meine Mutter wusste auch gar nichts über seinen Verbleib. Für mich war das halt so. Ich hab’ das immer pragmatisch gesehen.“Erst Jahre später – im Teenageralter – ist dann bei ihm die Überlegung aufgetaucht: Ob ich ihn vielleicht suchen soll?
Aber wo setzt man da an? Internet gab es noch nicht. Natürlich hätten andere Möglichkeiten bestanden, etwa die, eine Suchstelle zu bemühen. Aber dann stellte sich Rolando auch immer Fragen wie diese: Was finde ich vor? Weiß seine neue Familie von mir? Bin ich dort willkommen? Und mach’ ich dort durch mein Auftauchen vielleicht etwas kaputt?
„Mein Leben war für mich so in Ordnung, wie es war“, sagt der heute 51-Jährige rückblickend. Da gab es kein Defizit, kein nagendes Gefühl, etwas zu entbehren. Sein Vater war auch nur bedingt ein Phantom für ihn, denn dank einiger weniger Fotos, die ihm seine Mutter zeigen konnte, hatte er auch wenigstens ein Gesicht vor Augen.
So gingen die Jahre ins Land. Rolando Peceros machte nach der Schule eine Lehre zum Maschinenschlosser, absolvierte danach ein Ingenieurstudium im Fach Maschinenbau und wurde Konstrukteur und Projektleiter in einem StahlbauUnternehmen. Er heiratete, bekam drei Kinder, baute ein Eigenheim und blieb in Rain heimisch – auch nach dem Scheitern seiner Ehe.
Mehr aus Spaß und auch aus Neugierde googelte er etwa im Jahr 2004 den Namen Peceros. Da stieß er aber vor allem auf spanische Seiten und verstand kein Wort. Als er dann ausschließlich nach deutschsprachigen Websites suchte, fand er einen Terroristen mit seinem Namen und gab seine Nachforschungen deshalb auch bald wieder auf. „Ich war an einem Punkt angekommen, wo ich lieber eine gewisse Vorsicht walten lassen wollte. Das Ungewisse machte mich skeptisch und ich hab’ mir gesagt: Ich fang’ lieber nicht an zu suchen, wer weiß, wo ich da lande.“
Als Rolando Peceros 2006 für die SPD als Bürgermeisterkandidat in Langweid ins Rennen ging, baute er sich im Wahlkampf eine eigene Homepage auf. Und über diese Seite stolperten wohl immer wieder Menschen, die im Internet surften. Jedenfalls erreichten wiederholt E-Mails den Rainer mit Anfragen, wie denn dieser Name nach Deutschland gekommen sei. „Viele waren auf Spanisch – ich musste sie unbeantwortet löschen.“
Die Initialzündung kam etwa 2011. Eine Australierin, Elena Renee Peceros aus Sydney, meldete sich bei ihm auf Englisch. Woher denn sein Nachname komme, wollte sie wissen. Schließlich wüsste sie, dass alle Peceros weltweit mehr oder weniger ein und demselben Clan entstammen. Eine Korrespondenz zwischen Sydney und Rain entspann sich, an deren Ende Rolando und Elena erkannten: Wir haben denselben Vater – sind Halbgeschwister.
Elena konfrontierte Rolando Peceros senior mit ihren Erkenntnissen und fragte ihn aus. „Er war wohl schon ein wenig schockiert darüber, dass ihn nach einem halben Jahrhundert seine Vergangenheit nun einholte“, weiß Rolando junior aus den Erzählungen seiner Schwester.
Ein paar Jahre lang folgte regelmäßiger Kontakt, in denen der 51-Jährige aus Rain viel von Menschen erfuhr, die auf der anderen Seite des Erdballs leben, die ihm im Grunde völlig fremd waren und von denen er doch nach und nach begriff, dass sie ein Teil seiner Familie sind. Jener Teil, der ihm bisher gefehlt hatte – ohne dass er es so empfunden hätte. Da Rolando Peceros junior ein eher rational veranlagter Mensch ist, verarbeitete er die Ereignisse vor allem mit dem Verstand. Dennoch vertraute er einer Tante an: „Jetzt hab’ ich endlich auch eine komplette Familie.“
Elena und er tauschten Fotos aus, machten einander mit Namen von Angehörigen vertraut, ergänzten Puzzleteile, die bis dahin zum großen Ganzen noch gefehlt hatten. Der Rainer erfuhr von zwei weiteren Halbschwestern, Carmen und Katia, von seinem Neffen Diego, der in London lebt, von seinem künftigen Schwager Jamie und von einem Onkel, dem er wohl wie aus dem Gesicht geschnitten ist.
Und dann kam der Tag, an dem er seinen Vater (81) das erste Mal sah und hörte – sie kommunizierten per Skype. Elena hatte diese virtuelle Begegnung arrangiert, ehe es dann zur ersten wirklichen kam. Als Rolando am Montag, 29. September, in den Flieger nach Sydney stieg, war Elenas Hochzeit mit Jamie der Auslöser dafür, nun endlich diesen Teil seiner Familie persönlich kennenzulernen.
„Wir alle hatten wohl ein wenig Bammel vor dieser ersten Begegnung, auch mein Vater, wie mir Elena erzählt hat.“Rolando junior hatte sich sogar für den Ernstfall den Plan B überlegt, das Land auf eigene Faust zu erkunden, falls die Chemie nicht stimmen sollte. Doch es kam anders: Als sie sich am Flughafen in Sydney zum ersten Mal in die Arme nahmen, war viel Herzlichkeit dabei. „Man konnte von allen die Bereitschaft spüren, dass wir uns als Familie eine Chance geben wollen“, erzählt Rolando. Während sein Vater wohl ein grundsätzlich eher zurückhaltendes Naturell hat, half Elenas temperamentvoller Charakter einer echten Latina, anfängliche Hemmungen zu überwinden.
Bis zur Hochzeit wohnte Rolando aus Rain bei Halbschwester Elena, danach begab er sich mit seinem Vater – den er mal „Dad“, mal „Rolando“nennt – auf eine Tour durch Sydney und Umgebung. „Er hat in der Tourismusbranche gearbeitet und war von jeher ein Reisevogel“, beschreibt der 51-Jährige. „Wir hatten eine sehr intensive Zeit miteinander und ich hab viel von ihm erfahren. Über die Trennung meiner Eltern hab’ ich ihn allerdings nicht ausgefragt – das alles ist gut so, wie es ist.“
Den Heimflug nach Deutschland trat Rolando Peceros mit gemischten Gefühlen an. Zum einen war er froh, nach all dem Außergewöhnlichen wieder in seinen geregelten Alltag zu kommen. Zum anderen hat ihn Australien als ein Land begeistert, in dem Multikulti so ganz selbstverständlich, voller Toleranz und Akzeptanz gelebt wird. Und zum Dritten weiß er, dass es ein Wiedersehen geben wird: Spätestens im Herbst 2019 trifft er seine australische Familie wieder. Denn dann heiratet Halbschwester Carmen in Schottand – woher ihr Zukünftiger stammt. Und bis dahin bleibt ihnen das Internet, um die Bande weiter zu festigen...
Dass der Vater nicht da war, war nie ein Problem
Nach und nach erfuhr er von seiner Familie