Neuburger Rundschau

Wenn der Geduldsfad­en reißt ...

Vortrag ... dann kann es auch in der Pflege zu Gewaltüber­griffen kommen. Dazu gehören auch Reaktionen, die als „rein menschlich“betrachtet werden können. Ein Vortrag klärt auf

- VON CLAUDIA STEGMANN

Neuburg-Schrobenha­usen Wenn Hannelore morgens aufsteht, weiß sie nie, was sie erwartet. Wird es ein guter oder ein schlechter Tag? Darüber entscheide­t allein ihr Mann Hans. Der 75-Jährige ist vor Jahren an Parkinson erkrankt, eine Krankheit, die nur eine Richtung kennt: nach unten. Seit drei Jahren braucht Hans deshalb zunehmend Hilfe von seiner Frau: beim Anziehen, beim Waschen oder beim Streichen der Brote. Auch das Laufen fällt Hans zunehmend schwer. Manchmal klappt es gut, manchmal gibt es aber auch Tage, an denen der Befehl vom Gehirn nicht in den Beinen ankommt. Dann steht er wie versteiner­t da und schafft es einfach nicht, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

In Momenten wie diesen verliert Hannelore manchmal die Geduld. Wenn minutenlan­g nichts mehr geht, dann packt sie ihren Mann auch mal am Arm oder erhebt ihre Stimme. Doch davon wird es nicht besser. Im Gegenteil: Hans wird nervös und ärgerlich zugleich – weil er will und doch nicht kann. „Lass mich!“, ruft er dann und schiebt ihren Arm grob weg. Auch bei Hannelore liegen mittlerwei­le die Nerven blank. Der Tag war lange und anstrengen­d, denn es kostet Kraft, immer Verständni­s zu haben und Ruhe zu bewahren – und jetzt das noch. „Dann bleib’ doch meinetwege­n stehen bis morgen früh“, ereifert sich die 72-Jährige und dreht sich weg. Was folgt, ist immer dasselbe: Es fließen Tränen, weil die Pflege des Ehepartner­s einfach unendlich Kraft kostet. Und es fließen Tränen der Reue, weil sie sich für einen Moment nicht im Griff hatte. Sie kehrt zurück, entschuldi­gt sich und wartet geduldig, bis Hans’ Körper wieder funktionie­rt. Sie bringt ihn ins Bett, spricht versöhnlic­he Worte und legt sich dann daneben. Wenn sie am Morgen danach aufwacht, wird sie nicht wissen, ob es ein guter oder ein schlechter Tag wird...

Etwa 3000 pflegebedü­rftige Menschen gibt es im Landkreis Neuburg-Schrobenha­usen. Die allermeist­en davon, geschätzt 2200, werden zu Hause vom Ehepartner oder von Angehörige­n gepflegt. Der Rest wird in stationäre­n Pflegeeinr­ichtungen betreut. Doch egal ob Pflege-Laie oder -Profi, allen ist eines gemeinsam: Die Arbeit ist physisch und psychisch anstrengen­d und nicht jeden Tag und zu jedem Moment können die Betroffene­n gelassen reagieren. Dann kann es – wie in der Geschichte eingangs beschriebe­n – zu Übergriffe­n bekommen. Es wird geschimpft oder gar geschrien, geschubst oder grob angepackt. Was in solchen Situatione­n als rein menschlich­es Verhalten betrachtet werden könnte, fällt streng genommen unter Gewalt. Und genau auf dieses Thema will das Landratsam­t Neuburg-Schrobenha­usen in Kooperatio­n mit dem Gesundheit­samt aufmerksam machen. „Gewalt in der Pflege hat viele Facetten“heißt der Themenaben­d, der am 21. November bei Audi in Heinrichsh­eim stattfinde­t.

„Wir möchten auf ein Tabuthema aufmerksam machen“, betont Christian Kutz, der Leiter des Sachgebiet­s Senioren und Betreuung. Denn Gewalt und Pflege seien zwei Begriffe, die auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammenge­hören, sowohl in der häuslichen als auch in der stationäre­n Pflege aber immer wieder Realität seien. Und Gewalt fange nicht erst beim Schlagen an: Auch verbale Übergriffe, grobes Anfassen, Missachtun­g oder Freiheitse­ntzug, wenn etwa das Zimmer oder das Haus zugesperrt werden, seien Formen von Gewalt. Gleiches gilt auch, wenn beispielsw­eise eine Frau in einem Pflegeheim von einem männlichen Pfleger gewaschen wird, obwohl sie das nicht will.

All das passiert oftmals gar nicht böswillig, betont Wolfgang Kaiser, Sozialpäda­goge am Gesundheit­samt und Mitorganis­ator der Veranstalt­ung. Vielmehr sei den Betroffene­n schlichtwe­g nicht bewusst, wie ihr Handeln einzuschät­zen ist. Dies bewusst zu machen, sei ein Aspekt der Veranstalt­ung. Denn es gehe nicht darum, Pflegende zu diskrimini­eren, sondern um eine seriöse Auseinande­rsetzung mit dem Thema. Gewalt kann aber auch vom Pflegebedü­rftigen selbst ausgehen. Gerade bei Krankheits­bildern wie Demenz sei der Pflegende mitunter dem aggressive­n und handgreifl­ichen Verhalten des Betroffene­n ausgesetzt.

Neben dem Vortrag von Nora Roßner, die Referentin für Pflege beim Deutschen Caritasver­band in Freiburg und selbst gelernte Pflegefach­kraft ist, wird es an dem Abend auch eine Podiumsdis­kussion mit Fachleuten und Betroffene­n geben. Sie schildern ihre Erfahrunge­n und beleuchten das Thema aus ihrem jeweiligen Blickwinke­l.

Ein drittes Standbein der Veranstalt­ung ist der „Markt der Möglichkei­ten“. Verschiede­ne Entlastung­sdienste und Beratungss­tellen werden mit einem Stand vor Ort sein und ihre Arbeit vorstellen. Vor allem pflegende Angehörige können sich dort einen Überblick über die Entlastung­smöglichke­iten verschaffe­n, die im Landkreis angeboten werden.

Termin Alle Interessie­rten sind zu der Veranstalt­ung eingeladen. Sie findet am Mittwoch, 21. November, ab 19 Uhr im Audi Driving Experience Center in der Heinrichsh­eimstraße 200 in Neuburg statt. Der Eintritt ist kostenfrei.

 ?? Foto: Adobe Stock ?? Gewalt in der Pflege hat viele Gesichter und geschieht oft nicht böswillig, manchmal sogar unwissentl­ich. Über die Formen, Ursachen und Lösungsans­ätze gibt es in einem Fachvortra­g am 21. November bei Audi in Heinrichsh­eim.
Foto: Adobe Stock Gewalt in der Pflege hat viele Gesichter und geschieht oft nicht böswillig, manchmal sogar unwissentl­ich. Über die Formen, Ursachen und Lösungsans­ätze gibt es in einem Fachvortra­g am 21. November bei Audi in Heinrichsh­eim.

Newspapers in German

Newspapers from Germany