Neuburger Rundschau

Die Suche nach dem Ausweg aus der Brexit-Krise

Nach der Absage der Brexit-Entscheidu­ng im britischen Parlament braucht Premiermin­isterin Theresa May einen Kompromiss. Die EU will hart bleiben, die Industrie warnt vor einem Desaster. Warum die Lage so schwierig ist

- VON KATRIN PRIBYL, DETLEF DREWES UND STEFAN STAHL

London/Brüssel Am Morgen danach versuchte die Regierung in London nicht einmal, so zu tun als wäre alles in Ordnung. Das Königreich steckt in einer tiefen Krise. Es waren nicht nur die etlichen Pavillons der Fernsehsen­der vor dem Parlament, die diesen Umstand veranschau­lichten, oder die beflaggten Aktivisten, die in noch größerer Zahl jeweils wahlweise für den Brexit oder dagegen demonstrie­rten. Die politische Klasse taumelte wie verkatert durch Londons Regierungs­viertel nach jenem Montag, der mit all seinen Wirrungen und Wendungen selbst das an politische­s Chaos gewöhnte Land überrascht­e.

Premiermin­isterin Theresa May hatte eine für Dienstagab­end geplante Abstimmung über das Austrittsa­bkommen im Unterhaus aus Angst vor einer krachenden Niederlage kurzerhand verschoben. Sie soll nun bis spätestens 21. Januar stattfinde­n. Ob Premiermin­isterin Theresa May sich bis dahin im Amt halten kann, ist aber die große Frage. Selbst viele Kollegen, die sich in der Vergangenh­eit loyal gegenüber May zeigten, haben das Vertrauen in die Premiermin­isterin verloren.

brach zu einer Charme-Offensive in Richtung Kontinent auf, um den zwischen London und Brüssel ausgehande­lten Deal nachzubess­ern. Am Morgen traf May den niederländ­ischen Ministerpr­äsidenten Mark Rutte, weiter ging es im Kanzleramt in Berlin bei Angela Merkel, als letzte Station diente Brüssel, wo sie EU-Ratschef Donald Tusk und Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker empfingen. Beide sprachen aus, was die Staatsund Regierungs­chefs der EU bei Telefonate­n übermittel­t hatten: Das Brexit-Paket wird nicht wieder aufgeschnü­rt. Denkbar seien höchstens ein paar wohlklinge­nde Worte als Begleitung. Gemeint sind beispielsw­eise beiderseit­ige Versprechu­ngen, alles dafür zu tun, dass die von den britischen Abgeordnet­en so gehasste Klausel gar nicht zum Tragen kommt: der sogenannte „Backstop“, eine Garantie für eine offene Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland.

Er hat sich mittlerwei­le zur Glaubensfr­age auf der Insel entwickelt. Etliche glühende Brexit-Anhänger fürchten, dass die im Austrittsv­ertrag vorgesehen­e Notfalllös­ung Großbritan­nien auf Dauer zu eng an die EU bindet. Sie betrachten den Backstop als nichts anderes als Ver- rat am Königreich. Das Instrument sollte nur für den Notfall da sein, falls es bei den Gesprächen über die Grenze zwischen der Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland nicht zu einer akzeptable­n Einigung kommt. Die ist schwierig, weil eine harte Grenze vermieden werden muss, um das friedvolle Miteinande­r auf der Grundlage des Karfreitag­sabkommens von 1998 nicht zu riskieren. Da eine Grenze zwischen Nordirland und dem übrigen Königreich aus britischer Sicht verständli­cherweise auch nicht infrage kommt, war man auf eine behelfswei­se Fortdauer der Zollunion verfallen, bis jemand eine akzeptable Idee hat, um die Grenzfrage zu lösen. Erst dann kann die Zollunion beendet werden. Die EU sieht den Backstop eigentlich als Anhängsel an, das im Falle guter Verhandlun­gen ohnehin obsolet werden würde. Auf britischer Seite überwiegt dagegen die Befürchtun­g, das Instrument sei eine Leine, an der die Insel fortab liegen werde, weil die EU sie in ihrem Einflussbe­reich halten möchte.

Ein hochrangig­er EU-Diplomat nennt die Situation ausweglos: „Das Vereinigte Königreich will zwar einen Brexit mit Deal, aber den Deal, den man hat, lehnen sie ab. Die EuMay ropäer wollen keinen Brexit, haben aber nun wenigstens einen Deal, den sie auf keinen Fall wieder hergeben werden.“In dieser verfahrene­n Lage rechnet in Brüssel niemand damit, dass ein paar kosmetisch­e Worthülsen einen Durchbruch für diesen Deal sichern könnten. „Die wollen Theresa May nichts geben, sondern sie mit einem Kopftätsch­eln und einem ‚Es wird alles gut‘ wieder nach Hause schicken“, sagte der Diplomat. Was soll beim EU Gipfel herauskomm­en? „Die Chefs werden May klarmachen, dass das nun ihre Nummer ist und sie zu Hause den Deal durchsetze­n muss“, sagt ein anderer der erfahrenen Länder-Diplomaten, die ihre Regierunge­n in Brüssel vertreten. „Entweder das reicht ihr oder sie nutzt das ganze Theater, um deutlich zu machen, dass sie gekämpft hat – oder sie geht leer aus.“Doch eigentlich brauchen beide Seiten diesen Deal – weil sie sonst auf einen Brexit ohne Abkommen zusteuern, mit allen Konsequenz­en. „Ich befürchte, dass in Großbritan­nien ganze Branchen durch einen ungeordnet­en Brexit in existenzie­lle wirtschaft­liche Nöte geraten könnten“, sagte der deutsche Arbeitgebe­r-Präsident Ingo Kramer unserer Redaktion. „Für England ist die Europäisch­e Union der Handelspar­tner Nummer eins. Umgekehrt ist für Deutschlan­d Großbritan­nien ein wichtiger Handelspar­tner von vielen.“

Dabei war ja sogar noch etwas Hoffnung aufgekeimt, als der Europäisch­e Gerichtsho­f am Montag einen einseitige­n Rückzug vom Brexit samt Fortsetzun­g der britischen EU-Mitgliedsc­haft für machbar erklärt hatte. Doch dieses Urteil fand kaum Beachtung. Denn auch hier müsste am Ende das britische Parlament zustimmen. Das gilt ohne Neuwahlen derzeit als ausgeschlo­ssen.

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Foto: dpa Letzte Charme-Offensive: Theresa May mit Jean-Claude Juncker.

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