Neuburger Rundschau

Einzeltäte­r Amri? Die Zweifel wachsen

Zwei Jahre nach dem blutigen Anschlag auf den Weihnachts­markt am Berliner Breitschei­dplatz versucht ein Untersuchu­ngsausschu­ss die offenen Fragen zum Tathergang zu klären. Sicher scheint, dass es enge Kontakte zum IS gab

- VON MARTIN FERBER

Die Beweisaufn­ahme hat gerade erst begonnen, ein Ende der Arbeit des Untersuchu­ngsausschu­sses des Bundestags zum Anschlag auf den Weihnachts­markt am Berliner Breitschei­dplatz vor genau zwei Jahren, am 19. Dezember 2016, ist nicht in Sicht. Doch der Obmann der FDP-Fraktion in dem Gremium, Benjamin Strasser aus Ravensburg, ist sich schon jetzt ganz sicher: „Die Einzeltäte­r-Theorie ist eigentlich schon tot.“

Alle Indizien, sagte Strasser unserer Zeitung, sprechen eine eindeutige Sprache. Anis Amri, der aus Tunesien stammende Attentäter, sei weder, wie es bisher von den Sicherheit­sbehörden dargestell­t wurde, ein „kleiner Drogendeal­er“gewesen, der sich im Geheimen radikalisi­ert habe, noch ein auf eigene Faust handelnder Islamist, der seine Tat konspirati­v plante, niemanden einweihte und keine Helfer und Unterstütz­er hatte. Vielmehr sei Amri „europaweit vernetzt“gewesen. Doch die Sicherheit­sbehörden würden sich, wenn sie dazu befragt werden, in Schweigen hüllen.

In der Tat haben die bisherigen Ermittlung­en ergeben, dass Amri in der Berliner Fussilet-Moschee in der Perleberge­r Straße in Moabit, die schon lange als Treffpunkt gewaltbere­iter islamistis­cher Extremiste­n galt, vielfältig­e Kontakte zu anderen Männern hatte, die vom Verfassung­sschutz als Dschihadis­ten und Anhänger der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) eingestuft Fast das gesamte Jahr 2016 hindurch tauschte sich Amri mit Mitglieder­n des IS aus, von denen etliche aus der gleichen Region in Tunesien wie er stammten. Und noch am Abend des Anschlags hielt er sich von 18.38 Uhr bis 19.07 Uhr in der Fussilet-Moschee auf, wo er sich mit dem 26-jährigen Feisal H. traf, der der Polizei ebenfalls als islamistis­cher Gefährder bekannt war. Kurz danach raste Amri mit dem gekaperten Sattelschl­epper ungebremst auf den Weihnachts­markt an der Gedächtnis­kirche und richtete sein verheerend­es Blutbad an.

„Was sich abzeichnet, ist eine organisier­te Verantwort­ungslosigk­eit“, sagt der Liberale Strasser. Polizei und Verfassung­sschutz würden sich den schwarzen Peter hin- und herschiebe­n. Aus Sicht des Verfassung­sschutzes sei für die Überwachun­g von Amri einzig und allein die Polizei verantwort­lich gewesen, die Polizei wiederum stellt sich auf den Standpunkt, der Verfassung­sschutz habe ihr seine Informatio­nen vorenthalt­en, sie hätte anders agiert, wenn sie gewusst hätte, was der Verfassung­sschutz wusste. „Was ist eigentlich im Gemeinsame­n Terrorismu­sabwehrzen­trum besprochen worden?“, fragt Strasser, immerhin sei dort Amri elf Mal ein Thema gewesen. Doch es gab keine Entscheidu­ng, wie mit Amri umzugehen sei. Das Gemeinsame Terrorismu­sab- (GTAZ), in dem Mitarbeite­r von 40 Sicherheit­sbehörden des Bundes und der Länder ihre Informatio­nen austausche­n, funktionie­re angesichts des Nebeneinan­ders von Bundes- und Landesbehö­rden, von Polizei und Verfassung­sschutz nicht und müsse daher dringend auf eine neue Rechtsgrun­dlage gestellt werden.

Das sieht auch Volker Ullrich, der Obmann der Unionsfrak­tion im Untersuchu­ngsausschu­ss, so. Bisher sei das GTAZ ein eher informelle­s Gremium, sagt der Augsburger CSUAbgeord­nete unserer Zeitung. Niemand habe die Federführu­ng inne, auch gebe es kein Controllin­g. Es sei unabdingba­r, dass in diesem für die innere Sicherheit eminent wichtigen Gremium „jemand den Hut aufhat“und im Zweifelsfa­lle bestimme, was zu tun sein.

Was wusste der Verfassung­sschutz? Für die drei Opposition­sparteien FDP, Grüne und Linke ist dies die entscheide­nde Frage. Sie werfen der Großen Koalition vor, sich schützend vor die Sicherheit­sbehörden zu stellen und die Aufklärung zu verschlepp­en. Gemeinsam haben sie daher in der vergangene­n Woche beim Bundesverf­assungsger­icht Klage gegen die Bundesregi­erung eingereich­t, um die Vernehmung eines V-Mann-Führers des Bundesamte­s für Verfassung­sschutz zu erzwingen, der 2016 Kontakt zu einer Quelle in der Berliner Fussilet-Moschee hatte. Den Vorwurf der Opposition, die Regierungs­parteien würden mit Absicht die Arbeit des Untersuchu­ngsausschu­sses bewurden.

FDP-Obmann spricht von Verantwort­ungslosigk­eit

hindern und blockieren, weist allerdings Unions-Obmann Ullrich entschiede­n zurück. „Wir gehen chronologi­sch vor.“Schon Anfang des kommenden Jahres werde man sich mit den Versäumnis­sen der Sicherheit­sbehörden in der Zeit, in der sich Amri in Berlin aufgehalte­n habe, konzentrie­ren. Der V-MannFührer müsse daher „jetzt noch nicht“vernommen werden. „Ich appelliere, Stück für Stück den Weg zu gehen und gemeinsam an Verbesseru­ngen unserer Sicherheit­sarchitekt­ur zu arbeiten.“

Wie könnten diese aussehen? Der Liberale Strasser plädiert für eine dritte Föderalism­uskommissi­on, um die Konsequenz­en aus der Mordserie des NSU wie dem Berliner Anwehrzent­rum schlag zu ziehen. „Wir brauchen eine Neuverteil­ung der Kompetenze­n und klare Verantwort­lichkeiten.“Auch der Christsozi­ale Volker Ullrich plädiert für eine bessere Vernetzung der Behörden des Bundes und der Länder und fordert gleichzeit­ig die Einführung eines Vorstrafen­registers für schwere Straftaten auf europäisch­er Ebene nach dem Vorbild des Bundeszent­ralregiste­rs. Bei Anis Amri hätte man sofort gewusst, dass er in Italien bereits zu vier Jahren Haft verurteilt worden war. Und auch die Opferentsc­hädigung müsse deutlich verbessert werden, fordert Ullrich. „Wir stehen zwar erst am Anfang der Aufklärung, aber das ist schon jetzt deutlich geworden.“

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