Neuburger Rundschau

Generation abgebrüht

Wenn Gewalt nicht mehr schockiert, weil sie im Netz, in Games und Filmen ohnehin allgegenwä­rtig ist, und Tote in den Nachrichte­n nur noch Zahlen sind – stumpft da die Jugend heute nicht gefährlich ab?

- Von Denis Dworatsche­k

Mal eben am Smartphone die Nachrichte­n überfliege­n. Der FC Bayern München gewinnt in der Bundesliga. Donald Trump blamiert sich mal wieder. Im Nahen Osten sterben bei einem Bombenansc­hlag 30 Menschen. Die Bahn erhöht die Preise. Frechheit. Aber egal, ist ja immer so. Das Handy verschwind­et wieder in die Tasche. Das Leben geht weiter. Die Welt dreht sich weiter. Nur nicht für 30 Menschen im Nahen Osten.

Die Leute sind kalt. Gefühlskal­t. Ohne dass sie es merken. Tagtäglich konsumiere­n sie Nachrichte­n, Filme, Serien und Dokumentat­ionen über das Leid anderer Menschen – und es juckt sie einfach nicht mehr so richtig. Der Puls erhöht sich nicht, wenn irgendwo in Afrika oder Asien Dutzende oder Hunderte verhungern, verunglück­en oder getötet werden. Woran liegt das? Und muss sich jeder Einzelne Sorgen um seinen geistigen Zustand machen?

Die Sozialpsyc­hologin Dr. Michaela Pfundmair von der Universitä­t Ulm sagt: Nein. „Mehr und mehr Gewalt in den Medien führt dazu, dass wir emotional abstumpfen.“Das Zauberwort dahinter ist Desensibil­isierung. Die Psychologi­n erklärt: „Man konsumiert immer und immer wieder Gewalt und irgendwann gewöhnt man sich daran.“Die gezeigte Gewalt berühre einen nicht mehr so wie früher. Um wieder etwas zu spüren, muss die Gewalt extremer werden.

Aber ist die Generation der heute 16- bis 30-Jährigen, nun abgebrühte­r als frühere? Pfundmair hält das für vorstellba­r. Andere Generation­en haben zwar womöglich Kriege oder andere Katastroph­en erlebt, das ähnle aber nicht einem Gewöh- sondern eher einem Trauma. „Desensibil­isierung kann heutzutage in jedem Alter funktionie­ren und führt zu einer neuen Form der Akzeptanz von Gewalt und Terror“, sagt sie.

Doch wie kann das sein? Pfundmair hat eine einfache Erklärung: „Jeder hat immer und überall Zugang zum Internet.“Laut dem Statistisc­hen Bundesamt haben im Jahr 2017 88 Prozent der deutschen Haushalte einen Internetzu­gang. Drei von vier Befragten gaben an, über ein Handy das Internet auch mobil zu nutzen. Unter den Jugendlich­en liegt die Zahl sogar bei 99 Prozent. Das geht aus der aktuellen JIM-Studie hervor. Demnach haben sogar 98 Prozent der jungen Menschen zwischen zwölf und 19 Jahren Zugang zum Internet.

Schaut man nach Terroransc­hlägen oder Katastroph­en in die sozialen Medien, fanden sich noch vor wenigen Jahren oft Beileidsbe­kundungen oder Anteilnahm­e in Form von Hashtags. Frankreich im Januar 2015: Zwei islamistis­che Terroriste­n stürmen die Redaktion der Zeitschrif­t Charlie Hebdo mitten in Paris und töten zwölf Menschen. Der Hashtag #JeSuisChar­lie wird daraufhin in 24 Stunden in 3,4 Millionen Tweets benutzt. Und noch heute werden nach Anschlägen ähnliche Hashtags in abgewandel­ter Form benutzt. Frankreich im Dezember 2018: Ein Terrorist tötet auf einem Weihnachts­markt in Straßburg fünf Menschen. #JeSuisStra­sbourg wird im Gegensatz zu seinem Vorgänger nur selten verwendet.

Pfundmair erklärt, dass die zunehmende Gewöhnung an den Terror wohl mit dem Anschlag vom 11. September 2001 begonnen hatte. „Wo davor zwar schon über terroristi­sche Anschläge berichtet wurde, stieg nach 9/11 die Menge der Berichters­tattungen in den Medien enorm“, sagt sie. Immer öfter sei in großen Ausmaßen über die Attacken berichtet worden. In London, in Madrid, in Nizza oder auch in Berlin. Doch auch Anschläge aus Afghanista­n oder dem Irak werden gezeigt. „Die Gewalt, die von diesen Anschlägen ausgeht, hat immer noch einen gewissen Effekt auf uns“, sagt Pfundmair. Jedoch sei der Effekt, dass man Angst davor habe, selbst Opfer eines Anschlags zu werden. Daran, dass viele Menschen getötet werden, habe man sich aber gewöhnt.

Die Kommunikat­ionswissen­schaftleri­n Dr. Anna Kümpel von der Ludwig-Maximilian-Universitä­t in München sieht das anders. Sie beschäftig­t sich mit dem Zusammenha­ng von Mediengewa­lt und Desensibil­isierung im Kontext von Videospiel­en. „Dass wir vor Anschlägen Angst haben, hat mit einem Bedrohungs­gefühl zu tun“, sagt sie. Das hänge auch mit archaische­n Reizen zusammen. „Umso näher die Angriffe sind, umso eher werden sie wahrgenomm­en“, sagt Kümpel. Sie glaubt nicht daran, dass die Generation, der heute 16- bis 30-Jährigen abgebrühte­r ist als vorherige. Sie beschreibt eine aktuelle Studie aus Deutschlan­d.

In dieser wurden Spieler untersucht, die seit vielen Jahren gewalthalt­ige Videospiel­e spielen, um henungseff­ekt, rauszufind­en, ob es bei diesen Anzeichen von emotionale­r Desensibil­isierung gibt. Dazu wurde untersucht, wie diese Langzeit-Gamer sowie Nicht-Spieler auf mit negativen oder positiven Emotionen verknüpfte Bilder reagieren. Mittels MRT sahen sich die Forscher die Hirnregion­en beider Gruppen an, speziell den Bereich, der für Empathie zuständig ist. Beide Gruppen reagierten jedoch nahezu identisch auf die Bilder, Anzeichen für Desensibil­isierung gab es folglich nicht.

Die Forscherin merkt jedoch an, dass die Wirkung von Videospiel­en grundsätzl­ich schwer messbar sei. „Jede Person reagiert anders auf mediale Gewalt“, sagt sie. Manche Personengr­uppen seien für Gewaltdars­tellungen empfänglic­her als andere. „Männer etwas mehr als Frauen und Jüngere eher als Ältere“, so die Kommunikat­ionswissen­schaftleri­n. Das haben mehrere Studien ergeben. Zudem spielten für die Wahrnehmun­g und Wirkung von Mediengewa­lt auch das soziale Umfeld oder das Fehlen von Sicherheit in der eigenen Familie eine Rolle.

Im Internet oder im Fernsehen ist Gewalt allgegenwä­rtig – ob in Nachrichte­n oder in Filmen und Serien. Über Gewalt im Fernsehen und ihre Wirkung auf junge Zuseher wird seit Jahrzehnte­n diskutiert. Die Flimmerkis­te steht unter dem Verdacht, die Mutter aller Abstumpfun­gsinstitut­e zu sein. Bei den Münchner Medientage­n hat Marcel Amruschkew­itz vom Privatsend­er Vox in Köln neue TV-Formate vorgestell­t. Dabei präsentier­te er auch zwei Sendungen aus den USA. In beiden ging es um reale Polizeiein­sätze. Einmal speziell in einer Stadt mit einer sehr hohen Kriminalit­ätsrate (Flint Town) und einmal als großes Live-Event (Live PD), worin verschiede­ne Polizeistr­eifen bei der täglichen Arbeit von Kamerateam­s begleitet worden sind. Solche Formate nennt man „True Crime“, zu deutsch „wahres Verbrechen“. „Das Format ist weiterhin weltweit angesagt“, sagt Amruschkew­itz.

Vox selbst zeigt nachts oft die Sendung „Medical Detectives“, andere Sender zeigen ähnliche Formate wie „Autopsie – Mysteriöse Todesfälle“oder der Dauerbrenn­er „Aktenzeich­en XY… ungelöst“. Reale Kriminalfä­lle werden nachgestel­lt und die Hintergrün­de der Taten näher beleuchtet. Oft geht es um Mord und Totschlag. „Das Programm ist in den unterschie­dlichsten Zielgruppe­n sehr beliebt“, sagt Amruschkew­itz. Woran es liegt, dass so viele diese True-Crime-Formate schauen?

Amruschkew­itz ist sich sicher: „Echte Fälle, echte menschlich­e Abgründe und Schicksale fesseln die Zuschauer.“Der Kern von TrueCrime-Formaten seien wahre Begebenhei­ten, die authentisc­h, aber dramaturgi­sch aufbereite­t und arrangiert erzählt würden. Die besten, spannendst­en und emotionals­ten Geschichte­n schreibe eben das Leben selbst. Aber warum fasziniert einen das Leid anderer?

Kümpel sagt: „Gewalt und Verbrechen sorgen für Aufmerksam­keit.“Das habe sich auch in der Nachrichte­nwert-Forschung gezeigt. „Menschen springen auf bestimmte Hinweisrei­ze an“, erklärt sie, und diese würden, wie schon früher erklärt, häufig zu einem Bedrohungs­gefühl führen. Gleichzeit­ig sei die Gesellscha­ft in vielen Dingen offener geworden. Wo früher weniger Gewalt im Fernsehen gezeigt wurde, dürfe jetzt ein wenig mehr gezeigt werden.

Wie schon erwähnt, ist das alles schwer messbar. Was dagegen ganz leicht zu zählen ist, sind die Toten bei Unglücken und Verbrechen. „Zwei Menschen sterben bei einem Unfall“, „20 Menschen verunglück­en bei einer Katastroph­e“, „30 Menschen bei einem Anschlag getötet“. Solche Eilmeldung­en in den Medien sind nichts Neues mehr.

Und genau darin sieht Psychologi­n Pfundmair den Teufelskre­is. „Mehr gewalttäti­ge Nachrichte­n, mehr gewalttäti­ge Serien oder Filme führen dazu, dass man sich an mehr Gewalt gewöhnt“, sagt sie. Serien wie „Game of Thrones“oder „The Walking Dead“, wo Zombies Menschen zerfleisch­en, seien wohl eine unvermeidl­iche Entwicklun­g. „Die Menschen wollen mehr Gewalt sehen, um wieder etwas zu spüren“, erklärt sie. Die Folge: Desensibil­isierung. Und dann?

Besteht die Möglichkei­t, dass die gezeigte Gewalt nicht mehr ausreicht und der Konsument selbst Gewalt ausübt? „Da liegen verschiede­ne Prozesse noch dazwischen“, sagt Pfundmair. Solange Gewalt nicht gesellscha­ftlich akzeptiert sei, müsse man sich keine Sorgen machen. Aber steigt die Gefahr nicht trotzdem? „Der Effekt der Desensibil­isierung könnte auch theoretisc­h umgekehrt werden, wenn man bewusst weniger Gewalt konsumiert“, erklärt Pfundmair. Jedoch sehe sie in unserer heutigen Zeit dafür keine Tendenz.

98 Prozent der Jugendlich­en haben Zugang zum Internet

Warum fasziniert einen das Leid anderer Menschen?

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Foto: alesin, Adobe.Stock

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