Helft uns, liebe Tiere
Das Jahrhundertprojekt „Icarus“erforscht vom All aus das Leben und die Risiken auf der Erde
Wenn die Tiere verrückt spielen, lauf weg vom Meer und geh ins Hochland“, heißt es in einem alten indonesischen Kinderlied. Haben manche Tiere so etwas wie einen siebten Sinn für Naturkatastrophen? Auch wenn die Forschung hier erst noch am Anfang steht, so möchten sich die Wissenschaftler die außergewöhnlichen Sinnesleistungen der Tiere heute schon zunutze machen, als lebendes Frühwarnsystem sozusagen, das unzählige Menschenleben retten könnte. Das Problem: Wie können abertausende Tieren, rund um den Globus überwacht werden, und zwar 24 Stunden am Tag?
Das Mobilfunknetz ist dafür nicht geeignet, denn weltweit gibt es heute noch viel zu viele Funklöcher. Hinzu kommt, dass man einem kleinen Singvogel kaum einen kiloschweren Peilsender umhängen kann. Doch diese technischen Probleme sind jetzt gelöst: Anfang 2019 startet das Jahrhundertprojekt „Icarus“(engl. International Cooperation for Animal Research Using Space), für das weltweit Abertausende von Tieren, von der Amsel bis zur Meeresschildkröte, mit Sendern ausgestattet wurden und auch noch immer ausgestattet werden, um sie mithilfe der Internationalen Raumstation ISS kontinuierlich beobachten zu können.
Das internationale Forschungsprojekt unter Federführung des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell setzt dabei auf die neueste Technik. Die Miniaturisierung ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass die Sender mit GPSFunktion lediglich noch fünf Gramm wiegen und somit auch kleineren Tieren mitgegeben werden können, was bisher nicht möglich war. Für die Zukunft werden sogar noch leichtere Exemplare erwartet, sodass selbst Insekten damit ausgestattet werden sollen. Die einzelnen Sender sammeln unterschiedliche Informationen wie etwa Position, Temperatur, Luftdruck, Beschleunigung, aber auch Blutdruck und Herzfrequenz.
Die erhobenen Daten werden direkt an die Internationale Raumstation ISS übertragen, die diese dann wiederum zurück zur Erde schickt, sodass sie den Forschern weltweit in der sogenannten Movebank zur Verfügung stehen, denn Icarus ist ein Open-Source-Projekt. Auf diese Weise sind die Wissenschaftler in Zukunft also informiert, wenn beispielsweise die Ziegen, die am Fuße des Ätnas weiden, damit beginnen, auffällige Datenpakete zu verschicken.
„Erste wissenschaftliche Daten von Erdbeben und Vulkanausbrüchen legen nahe, dass verschiedene Tiere solche Ereignisse Stunden vorher spüren“, meint Prof. Dr. Martin Wikelski, Direktor am MaxPlanck-Institut für Ornithologie in Radolfzell und Leiter der IcarusInitative. „Wenn wir diese Fähigkeiten hieb- und stichfest belegen können, würde dies in Zukunft hunderttausenden Menschen das Leben retten.“
Doch Icarus kann noch viel mehr. 150 internationale Forschungsprojekte warten schon jetzt darauf, von den neuen Möglichkeiten Gebrauch machen zu können. „Die Anzahl der Zugvögel nimmt weltweit gerade so dramatisch ab, und wir wissen oft weder wo sie verschwinden noch warum“, sagt Wikelski, „wenn wir hier nicht schnell Antworten bekommen, damit wir Gegenmaßnahmen ergreifen können, wird es für viele Arten zu spät sein. Dasselbe gilt für die massiv ausgebeuteten Fischbestände sowie viele Meeressäuger in den Ozeanen.“
Erkenntnisse über die Wanderbewegungen von Tieren helfen letztendlich aber auch dem Menschen. „Wir müssen dringend mehr darüber wissen, wie Tiere Krankheitserreger verbreiten“, meint der Radolfzeller Leiter des Projekts. „Wie kommt die Vogelgrippe nach Europa? In welchen Tierarten kommt das Ebola-Virus zu uns?“Überhaupt erwarten sich die Wissenschaftler von Icarus ein besseres Verständnis des Zusammenspiels von Mensch und Tier.
Der Klimawandel ist hier ein wichtiges Thema. Die Forscher möchten verstehen, ob Zugvögel schnell genug auf Veränderungen, wie den Klimawandel oder auch die Verstädterung, reagieren können. Wie meistern sie die Herausforderungen ihrer Umwelt? Die Amsel ist hier ein begehrtes Forschungsobjekt, denn längst nicht alle Amseln machen sich im Herbst auf den Weg in den Süden, einige bleiben ganz einfach hier. Aber warum fliegen einige davon und andere nicht? Das würden die Ornithologen gerne wissen.
Mithilfe von Icarus können die Wissenschaftler nun sesshafte und ziehende Vögel aus verschiedenen Amsel-Populationen jahrelang beobachten und das sogar über sämtliche Landesgrenzen hinweg. Für die Forschung eröffnen sich so ganz neue Möglichkeiten.