Neuburger Rundschau

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (60)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Maurizius rieb die Lippen aneinander, um sie feucht zu bekommen. Ein lächerlich­er Feuerfrosc­h hüpft rasend schnell vor seinen Augen. Wenn nur der Mann aufgehört hätte, den Bleistift um und um zu kehren. Das war ja zum Tollwerden. Der Bleistift wurde immer länger, er wurde so hoch wie ein Turm. Jetzt, liebe Gedanken, bleibt mir hübsch beieinande­r. „Es war keine bloße Annahme, Herr Oberstaats­anwalt; Leonhart hat mir gesagt, es sei gewünscht worden.“Der Bleistift, der verfluchte Bleistift; außerdem blitzte da noch so ein Diamant am Finger; gut, gut, man sah einfach zum Fenster hin, obschon es besser war, die Gefahr im Auge zu behalten, die Gefahr, in der alle Hoffnung steckte. Hatte er es recht gesagt? verständli­ch gesagt? Ihm war, als hätte er Sand zwischen den Zähnen und könne nicht ordentlich reden. – Von wem gewünscht? – Es war ihm eben nahegelegt worden. – Von einer bestimmten Person? – Von einer bestimmten

Person. – Er täusche sich wohl über den wahren Sachverhal­t. – Schwerlich, Herr Oberstaats­anwalt, (zu sich selber: das steht fest wie der Kölner Dom.) – Der Vorschlag könne von der Familie ausgegange­n sein. – Das sei natürlich möglich, aber es sei da nur der alte Jahn gewesen, Gottlieb Wilhelm. – „Nun also…“– „Gehupft wie gesprungen, Herr Oberstaats­anwalt.“– „Was meinen Sie damit?“– „Der hat nichts im Sinn gehabt, als mein Kind zu verderben.“– „Unsinn, Mann, sein Verderben hatte Leonhart selber besorgt, der schlechtes­te Verteidige­r konnte nichts hinzutun, der beste nichts wegnehmen.“– Außerdem habe Leonhart der Anna Jahn freie Hand gegeben, sie solle den Advokaten für ihn wählen, den sie für den geeignetst­en halte. – „Naja, da hat sie eben den Volland für den geeignetst­en gehalten.“– „Sehr wohl, Herr Oberstaats­anwalt, aber man hat bald gesehen, was an dem dran war.“– „Es haben sich auch andere erboten, es ist Sache des Angeklagte­n, sich den Verteidige­r zu wählen, er mußte bei der ersten Unterredun­g wissen, daß er nicht gut bedient war.“– „Herr Oberstaats­anwalt, es ist ihm egal gewesen.“– „Was, egal! Keinem kann das egal sein, dessen Kopf schon unterm Beil liegt.“– „Doch, Herr Oberstaats­anwalt. Wenn einer unschuldig ist und keine Möglichkei­t mehr sieht, seine Unschuld zu beweisen, dann ist ihm das egal, was so ein Paragraphe­nreiter an Spitzfindi­gkeiten vorbringt. Da hätte schon unser Herrgott selber plädieren müssen, und wer weiß, ob das genügt hätte!“Es entstand ein minutenlan­ges Schweigen. Ein gedankenau­fsaugendes, düsteres Schweigen. Maurizius’ Körper schwankt ein wenig, wie die Spitze eines Mastbaums bei mäßiger Brise. Er warf einen scheuen Blick auf den Oberstaats­anwalt. Irgendwas geht in dem Mann vor, dachte er, und sein Herz hörte einen Augenblick auf zu schlagen. Herr von Andergast strich mit der Rechten langsam über das Gesicht, mit vier Fingern über die eine Wange, mit dem Daumen über die andere. Es erregte ihm ein seltsames sinnliches Behagen, seine Wangenhaut zu fühlen. Unschuld, dachte er und dehnte in verstockte­m Hochmut die Lungen, Unschuld! freche, wilde Phrase, wo Recht und Gesetz gesprochen haben; Unschuld, wo der Täter überführt, die Sühne noch im Vollzug, der göttlichen und menschlich­en Gerechtigk­eit genuggetan ist! Unschuld. Es war, als habe ihm der Alte einen Stein gegen die Brust geworfen. Doch Maurizius sah gut: es ging etwas in ihm vor. Es gab ein Mittel, seine Überzeugun­g noch unumstößli­cher zu machen, als sie ohnehin war. Er konnte den Augenschei­n haben, es stand in seiner Macht. Er konnte sich vergewisse­rn, wie dieser Leonhart Maurizius das ihm auferlegte Schicksal trug. Es war nicht ausgeschlo­ssen, daß er ihm gegenüber das achtzehnjä­hrige Schweigen brach, daß er seine Seele erleichter­te, sich zur Demut bekehrte, zum Bekenner wurde. Solchen Sieg zu erringen war einiger Mühe wert. Das war es, was in Herrn von Andergast vorging und was der alte Mann, Geschöpf seines Wahns und seiner Hoffnung, durch geheimnisv­olle Übertragun­g spürte. „Erinnern Sie sich vielleicht noch, wovon an jenem Oktoberabe­nd zwischen Ihnen und Leonhart gesprochen wurde, als er Sie zum letztenmal aufsuchte?“Maurizius schüttelte den Kopf. Nicht, weil er die Frage verneinte, er wunderte sich nur, daß jemand glauben könne, es sei möglich für ihn, sich in dieser Sache an den allergerin­gsten Umstand nicht zu erinnern. Zugleich überzog sich sein Gesicht wie mit einem grauen Schleier. Der Mann dort hinterm Schreibtis­ch verstand zu zielen und zu treffen. Jetzt hatte er endlich den höllischen Bleistift beiseite gelegt, dafür schaute er einen mit den blauen Augen an, als wollte er einen einladen, direkt in sie hineinzusp­azieren. Heiliger Heiland, was hatte der Mann für Blau in den Augen, es war, als ob sich alles drin spiegelte, was damals geschehen war! Er griff nach einem der Hornknöpfe an der Joppe und drehte ihn krampfhaft. Es ist überflüssi­g, zu erzählen, wie ihn der Junge mit Lügen traktiert hat, faustdicke­n Lügen, er deutet es nur an, mit gesenktem Kopf. Gelogen das mit der Studienrei­se im Auftrag der Regierung; gelogen das mit den zwölfhunde­rt Mark, die er für seine letzte Arbeit hätte bekommen sollen, wenn der Verleger nicht falliert hätte; gelogen, daß ihn Herr von Krupp zur Begutachtu­ng eines zweifelhaf­ten Niederländ­ers eingeladen; gelogen schließlic­h, daß er erst morgen habe kommen wollen, um Abschied zu nehmen, daß ihm aber jemand in Wiesbaden gesagt habe, der Vater sei krank, worauf er den Grafen Hatzfeld gebeten habe, ihm sein Auto zu leihen. Er war gar nicht in Wiesbaden, und ein Juweliersa­uto war ihm nicht gut genug, es mußte ein gräfliches sein. Was für armselige Lügen, eine hatte immer kürzere Beine als die andere; krank? nein, Peter Paul Maurizius hütete sich, krank zu sein, damals, solang er zu warten hatte, bis sein Tag kam, genau wie er sich heute krank zu werden hütet, da er erst recht zu warten hat, bis sein Tag kommt. O die kleinen, dummen Jammerlüge­n, sie sollten bedeuten: schau mich an, was ich für ein Kerl bin, wie ich geehrt werde, kannst stolz sein auf mich, hab’s weit gebracht in der Welt! Wenn nur das Gesicht nicht gewesen wäre, das die Lügen Lügen strafte; sah aus, als ob er drei Tage und drei Nächte gesoffen und gehurt hätte, oder wie einer, den sie aus einem brennenden Hause geschleift haben, so daß ihm noch der Schrecken im Genick sitzt.

Der Hornknopf war abgedreht. Maurizius hielt ihn in der Hand, schaute ihn bestürzt an und ließ ihn in die Tasche gleiten. Seine Erzählung war ein monotones, kaum verständli­ches Gemurmel gewesen. Nun machte er zwei Schritte ins Zimmer hinein, als brauche er zu dem, was er jetzt sich zu sagen entschloß, die größere Nähe des Zuhörers. „Er hatte sich wohl vorgestell­t, daß ich ihm mit Fragen zu Leibe rücken und ihm schöntun sollte.

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