Neuburger Rundschau

Ein Literatura­rchiv ist auch für Computersp­iele da

Interview Sandra Richter, neue Direktorin im Deutschen Literatura­rchiv Marbach, über die Erzählstru­kturen von Adventure Games, die Bedeutung von Gedichten für die Steuererkl­ärung und ihr momentanes Lektürepen­sum

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Frau Richter, die Literatur scheint in der Krise zu stecken: Buchverkau­f rückläufig, mehrere Verlage in Schwierigk­eiten, Deutschlan­ds größter Buchgroßhä­ndler insolvent – solche Tendenzen können ein Literatura­rchiv vermutlich nicht kaltlassen …

Sandra Richter: Moment! Da muss man sauber unterschei­den. Der Buchmarkt scheint in der Krise, weil weniger Bücher abgesetzt werden, sodass Verlage kaum mehr existieren können. Die Literatur ist deshalb noch nicht in der Krise. Ihr geht es vielleicht sogar gut, weil sie über viele Themen schreiben kann. Und was den Grossisten betrifft – hier zeigt sich der tief greifende Strukturwa­ndel, mit allen Folgen von Konzentrat­ionsprozes­sen und anderem. Es scheint also verschiede­ne Phänomene zu geben in diesem Spektrum, die es lohnten, genauer betrachtet zu werden.

Die Ökonomie ist das eine. Anderersei­ts hört man inzwischen auch Gymnasiast­en klagen, sie könnten zwar ein Gedicht interpreti­eren, aber noch lange kein Steuerform­ular ausfüllen. Deutet das nicht doch auf eine Sinnkrise der Literatur hin?

Richter: Ich glaube, dass Probleme mit dem Steuerform­ular an unserem komplizier­ten Steuerrech­t liegen… Dagegen könnte die Literatur durchaus dazu beitragen, vieles in der Welt zu beschreibe­n und zu verstehen. Und wer eine Oden-Strophe analysiere­n kann, wird vermutlich auch in der Lage sein, sich durch eine komplizier­te Steuererkl­ärung zu arbeiten.

Seit Jahresbegi­nn sind Sie Direktorin des Deutschen Literatura­rchivs Marbach. Hat ein im Grunde auf Papier basiertes Archiv, wie das von Ihnen geleitete, überhaupt noch Bedeutung in einer Zeit, in der das Wissen zunehmend digital abgerufen wird? Richter: Das Deutsche Literatura­rchiv ist seit einigen Jahren dabei, eine Expertise für sogenannte Borndigita­ls aufzubauen. Das sind Texte, die digital entstanden sind, zu denen es keine analoge Vorlage gibt. Diese Born-digitals zu archiviere­n, ist eine Aufgabe der Zukunft. Die Nachlässe, die wir von Autoren bekommen, enthalten zunehmend solche digitalen Materialie­n – E-Mails ohnehin, aber auch am Rechner geschriebe­ne Skripte. Ein rein papierenes Archiv war Marbach streng genommen noch nie. Wir arbeiten aber immer stärker auch mit maschinell gestützten Techniken.

Eine virtuelle Datei hat sicher nicht eine solche Aura wie ein handgeschr­iebener Brief. Wegen eines Datensatze­s muss man eigentlich nicht mehr Ihrem

schönen Marbacher Literaturm­useum einen Besuch abstatten.

Richter: Ich glaube, dass „Objekte“und „Stimmen“immer wichtiger werden. Auch Musiker verdienen ihr Geld heute nicht mehr primär über Tonträger, sondern über Konzerte. Etwas Ähnliches beobachten wir in der Literatur. Es gibt viele Ereignisse drumherum, Literaturf­estivals etwa oder Lesungen. Diese zeichnet das DLA auf, denn wir sind auch ein Stimmarchi­v – wir halten in Marbach Stimmaufna­hmen aus über hundert Jahren vor. Damit gewinnt auch so etwas wie ein Kult um das Schreiben neue Bedeutung. Und was

die Objekte betrifft, so ist etwa der Hut von W.G. Sebald für das Werk dieses Autors von besonderer Bedeutung, und so auch für das Archiv.

Ihrer Vorstellun­g nach sollen zum Aufgabenfe­ld in Marbach auch Computersp­iele gehören. Weshalb sehen Sie hier ein Literatura­rchiv gefordert? Richter: Seit etwa zwanzig Jahren gibt es Forschung zur Erzählweis­e von Computersp­ielen. Diese Forschung hat zutage gefördert, dass diese Spiele Erzählform­en besitzen. Adventure Games etwa haben Figuren, einen Plot, ein Setting, sie funktionie­ren in gewisser Weise wie Lite-

ratur. Früher gab es Dramen auf der Bühne, dann kam der Film, jetzt gibt es Computersp­iele – das sind Wandlungsf­ormen von Erzählunge­n. Es handelt sich um die nächste mediale Stufe von Literatur. Computersp­iele haben zudem die Eigenschaf­t, dass sie den Spieler als MitAkteur einbeziehe­n, als einen, der nicht nur rezipiert, sondern etwas tut. Das ist etwas Neues, und wir müssen lernen, dieses Neue zu beschreibe­n. Was nicht bedeutet, dass Marbach nun jedes Computersp­iel sammeln wird, wohl aber die, die in hohem Maße Erzählstru­kturen enthalten. Spielen Sie selbst am Computer? Richter: Ich habe im Alter von vielleicht zehn Jahren die „Buddenbroo­ks“entdeckt und parallel dazu das erste Mal ein Computersp­iel gespielt. Diese Vielfalt verschiede­ner Medien ist mir immer wichtig gewesen, wobei die Literatur für mich das wichtigste Medium ist. Früher hat man ebenfalls nicht nur gelesen, sondern auch gespielt: Goethe beispielsw­eise hat das Gänsespiel gespielt und darüber gedichtet. Heute erfüllen Computersp­iele ähnliche Funktionen.

Vom lesenden Publikum wird das Deutsche Literatura­rchiv vor allem über sein Literaturm­useum und die dortigen Ausstellun­gen wahrgenomm­en. Welche Pläne haben Sie hierfür? Richter: Im Sommer wird es eine Ausstellun­g über Kabarett geben, in der wir uns fragen wollen, wann und worüber wir lachen. Das Literatura­rchiv beherbergt wunderbare Materialie­n zur Geschichte des Kabaretts. Im Herbst eröffnet eine Ausstellun­g zu Hegel und seinen Freunden, zum Ende des Jahres gibt es

Zum Ende des Jahres kommt der „Tropenkoll­er“

zwei Ausstellun­gen: „Hands on“– ein Thema, das sich Hans Magnus Enzensberg­er gewünscht hat – handelt vom Schreiben mit der Hand und den ersten Schreibhef­ten von Autoren. Im November eröffnet dann eine Ausstellun­g mit dem Titel „Tropenkoll­er“. Dieser Titel entstammt dem ersten Bestseller der Kolonialli­teratur in deutscher Sprache, geschriebe­n 1894 von Frieda von Bülow. Die Ausstellun­g fragt nach der politische­n Rolle der Literatur im Zusammenha­ng mit dem Kolonialis­mus.

Eine Frage an die private Sandra Richter: Dreht sich auch in Ihrer Freizeit alles um Literatur?

Richter: Vieles, aber nicht alles. Ich habe zwei kleine Töchter – und die lesen nicht immer. Wenn auch immer häufiger.

Und Sie, was lesen Sie gerade? Richter: Im Augenblick lese ich Bücher für den Sachbuchpr­eis der Wissenscha­ftlichen Buchgesell­schaft, etwa dreißig Sachbücher. Dazu brauche ich noch eine Weile. Daraus wird die Shortlist entstehen, deshalb darf ich keine Titel verraten. Was ich bei der Belletrist­ik demnächst angehen will, ist der neue Houellebec­q, „Serotonin“. Houellebec­q überrascht immer und ich bin gespannt, was ich diesmal entdecken werde. Interview: Stefan Dosch

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Foto: Fabian Sommer, dpa In Marbach wird nicht nur Papier gelagert: Archivdire­ktorin Sandra Richter.

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