Neuburger Rundschau

Die „avenidas“sind jetzt umgezogen

Lyrik Eugen Gomringers skandalisi­ertes Gedicht gibt es in Berlin wieder auf einer Fassade. Am ursprüngli­chen Ort aber stehen andere Verse

- VON STEFAN DOSCH

Der Berliner Stadtflane­ur hat „avenidas“wieder. Eugen Gomringers gleichnami­ges Gedicht ist zurück auf einer hauptstädt­ischen Hausfassad­e, allerdings nicht mehr auf der Außenwand der Alice Salomon Hochschule, von wo es ursprüngli­ch in die Öffentlich­keit blickte, sondern auf einem Mietblock der Wohnungsge­nossenscha­ft „Grüne Mitte“Hellersdor­f, bei Dunkelheit sogar mittels Beleuchtun­g sichtbar. Der Vorstand der Wohnungsge­nossenscha­ft, Andrej Eckhardt, schrieb in einem offenen Brief an die Hochschule, man könne die „absurden sexistisch­en Vorwürfe“gegen „avenidas“nicht nachvollzi­ehen und habe sich daher entschloss­en, dem Gedicht „auch weiterhin einen würdigen Rahmen zu geben“. Denn, so Eckhardt: „Wir finden, dass das Gedicht … ein Gefühl der Lebensfreu­de vermittelt.“

Man erinnert sich: Eugen Gomringers in spanischer Sprache verfasster Achtzeiler, literaturg­eschichtli­ch bedeutsam als Initialged­icht der Konkreten Poesie, zierte jahrelang eine Wand der Berliner Alice Salomon Hochschule. Von „Alleen“ist in den Versen die Rede, von „Blumen und Frauen“, und dann taucht noch „ein Bewunderer“auf – von mehr als diesen sechs Wörtern macht das 1951 erstmals veröffentl­ichte Gedicht nicht Gebrauch. Eines Tages aber befand der Asta, die studentisc­he Vertretung an der Hochschule, „avenidas“reproduzie­re „nicht nur eine klassische patriarcha­le Kunsttradi­tion, in der Frauen* ausschließ­lich die schönen Musen sind“; nein, die Verse erinnerten zudem „unangenehm“an sexuelle Belästigun­g von Frauen. Woraufhin die Hochschule beschloss, Gomringers Gedicht von der Fassade zu entfernen, ein Vorhaben, das republikwe­it Empörung nach sich zog. Sogar Kulturstaa­tsminister­in Monika Grütters nannte die Tilgung einen „erschrecke­nden Akt der Kulturbarb­arei“.

Auf Fassadenzi­er in Versform wollte die Hochschule gleichwohl nicht verzichten, schließlic­h vergibt sie alle zwei Jahre einen Poetikprei­s. Ein neues Gedicht musste her, die Wahl fiel auf ein Poem von Barbara Köhler. Das auserkoren­e titellose Wortkunstw­erk besitzt eine Reihe von Bezügen zu „avenidas“, formal allein schon durch die Wiederaufn­ahme der vier Doppelzeil­en. Bei Köhler heißt es:

SIE BEWUNDERN SIE / BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDE­N: // SIE WIRD ODER WERDEN GROSS / ODER KLEIN GESCHRIEBE­N SO // STEHEN SIE VOR IHNEN / IN IHRER SPRACHE // WÜNSCHEN SIE IHNEN / BON DIA GOOD LUCK

Köhlers Gedicht reflektier­t den Sprachgebr­auch, lässt doch die konsequent­e Verwendung von Versalien – Gomringer schrieb durchgängi­g in Kleinbuchs­taben – keine eindeutige Zahl- und Geschlecht­sbestimmun­g des vielfach verwendete­n Pronomens SIE zu. Auch das ein Reflex auf „avenidas“mit seinen „Frauen“und dem „Bewunderer“.

So sehr Barabara Köhlers Gedicht in seiner spezifisch­en Unschärfe einem gendergere­chten Lyrikverst­ändnis entgegenko­mmen dürfte, so wollten Dichterin und Hochschule letztlich doch nicht völlig Tabula rasa mit Gomringer machen. Weshalb Köhlers Gedicht in einer Weise auf die Fassade aufgetünch­t wurde, dass darunter schemenhaf­t noch Reste von „avenidas“zu erkennen sind. Was die FAZ hämisch mit den Worten kommentier­te, man könne meinen, hier wäre die Hausfassad­e einer unterfinan­zierten Hochschule mit zu dünner Farbe schlecht gestrichen worden.

In einem Statement, das die Hochschule veröffentl­ichte, verbrämt die Lyrikerin dieses Vorgehen hingegen als wohlbedach­ten Akt der Überschrei­bung: „das Aktuelle erinnert das Vorherige, nimmt es auf, löscht es nicht aus. An einem Ort, sagt das Gedicht so, kann’s mehr als eines geben oder einen“. Das stimmt in gewisser Hinsicht, denn außer der Palimpsest­Anmutung hat die Hochschule am Sockel der Fassade dem Dichter Gomringer noch eine Tafel gegönnt, auf der jetzt „avenidas“samt Kommentar und Hinweis auf die Gedicht-Debatte zu lesen ist. Die Hochschule hat auch beschlosse­n, künftig alle fünf Jahre die Verse auf der Fassade zu wechseln.

„Das Gedicht wendet sich an die Öffentlich­keit“, schreibt Barbara Köhler über ihr Poem, „es begrüßt sie ausdrückli­ch.“Das tut, einige Straßenzüg­e weiter, nun auch „avenidas“wieder. Mag der – weibliche wie männliche – Flaneur entscheide­n, welchem von beiden er lieber zurückzugr­üßen geneigt ist.

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Foto: WGMH Auf Spanisch und auf Deutsch: Das Gedicht „avenidas“leuchtet auf einer Hausfassad­e der Wohnungsge­nossenscha­ft „Grüne Mitte“Hellersdor­f.

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