Die „avenidas“sind jetzt umgezogen
Lyrik Eugen Gomringers skandalisiertes Gedicht gibt es in Berlin wieder auf einer Fassade. Am ursprünglichen Ort aber stehen andere Verse
Der Berliner Stadtflaneur hat „avenidas“wieder. Eugen Gomringers gleichnamiges Gedicht ist zurück auf einer hauptstädtischen Hausfassade, allerdings nicht mehr auf der Außenwand der Alice Salomon Hochschule, von wo es ursprünglich in die Öffentlichkeit blickte, sondern auf einem Mietblock der Wohnungsgenossenschaft „Grüne Mitte“Hellersdorf, bei Dunkelheit sogar mittels Beleuchtung sichtbar. Der Vorstand der Wohnungsgenossenschaft, Andrej Eckhardt, schrieb in einem offenen Brief an die Hochschule, man könne die „absurden sexistischen Vorwürfe“gegen „avenidas“nicht nachvollziehen und habe sich daher entschlossen, dem Gedicht „auch weiterhin einen würdigen Rahmen zu geben“. Denn, so Eckhardt: „Wir finden, dass das Gedicht … ein Gefühl der Lebensfreude vermittelt.“
Man erinnert sich: Eugen Gomringers in spanischer Sprache verfasster Achtzeiler, literaturgeschichtlich bedeutsam als Initialgedicht der Konkreten Poesie, zierte jahrelang eine Wand der Berliner Alice Salomon Hochschule. Von „Alleen“ist in den Versen die Rede, von „Blumen und Frauen“, und dann taucht noch „ein Bewunderer“auf – von mehr als diesen sechs Wörtern macht das 1951 erstmals veröffentlichte Gedicht nicht Gebrauch. Eines Tages aber befand der Asta, die studentische Vertretung an der Hochschule, „avenidas“reproduziere „nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind“; nein, die Verse erinnerten zudem „unangenehm“an sexuelle Belästigung von Frauen. Woraufhin die Hochschule beschloss, Gomringers Gedicht von der Fassade zu entfernen, ein Vorhaben, das republikweit Empörung nach sich zog. Sogar Kulturstaatsministerin Monika Grütters nannte die Tilgung einen „erschreckenden Akt der Kulturbarbarei“.
Auf Fassadenzier in Versform wollte die Hochschule gleichwohl nicht verzichten, schließlich vergibt sie alle zwei Jahre einen Poetikpreis. Ein neues Gedicht musste her, die Wahl fiel auf ein Poem von Barbara Köhler. Das auserkorene titellose Wortkunstwerk besitzt eine Reihe von Bezügen zu „avenidas“, formal allein schon durch die Wiederaufnahme der vier Doppelzeilen. Bei Köhler heißt es:
SIE BEWUNDERN SIE / BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN: // SIE WIRD ODER WERDEN GROSS / ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO // STEHEN SIE VOR IHNEN / IN IHRER SPRACHE // WÜNSCHEN SIE IHNEN / BON DIA GOOD LUCK
Köhlers Gedicht reflektiert den Sprachgebrauch, lässt doch die konsequente Verwendung von Versalien – Gomringer schrieb durchgängig in Kleinbuchstaben – keine eindeutige Zahl- und Geschlechtsbestimmung des vielfach verwendeten Pronomens SIE zu. Auch das ein Reflex auf „avenidas“mit seinen „Frauen“und dem „Bewunderer“.
So sehr Barabara Köhlers Gedicht in seiner spezifischen Unschärfe einem gendergerechten Lyrikverständnis entgegenkommen dürfte, so wollten Dichterin und Hochschule letztlich doch nicht völlig Tabula rasa mit Gomringer machen. Weshalb Köhlers Gedicht in einer Weise auf die Fassade aufgetüncht wurde, dass darunter schemenhaft noch Reste von „avenidas“zu erkennen sind. Was die FAZ hämisch mit den Worten kommentierte, man könne meinen, hier wäre die Hausfassade einer unterfinanzierten Hochschule mit zu dünner Farbe schlecht gestrichen worden.
In einem Statement, das die Hochschule veröffentlichte, verbrämt die Lyrikerin dieses Vorgehen hingegen als wohlbedachten Akt der Überschreibung: „das Aktuelle erinnert das Vorherige, nimmt es auf, löscht es nicht aus. An einem Ort, sagt das Gedicht so, kann’s mehr als eines geben oder einen“. Das stimmt in gewisser Hinsicht, denn außer der PalimpsestAnmutung hat die Hochschule am Sockel der Fassade dem Dichter Gomringer noch eine Tafel gegönnt, auf der jetzt „avenidas“samt Kommentar und Hinweis auf die Gedicht-Debatte zu lesen ist. Die Hochschule hat auch beschlossen, künftig alle fünf Jahre die Verse auf der Fassade zu wechseln.
„Das Gedicht wendet sich an die Öffentlichkeit“, schreibt Barbara Köhler über ihr Poem, „es begrüßt sie ausdrücklich.“Das tut, einige Straßenzüge weiter, nun auch „avenidas“wieder. Mag der – weibliche wie männliche – Flaneur entscheiden, welchem von beiden er lieber zurückzugrüßen geneigt ist.