Neuburger Rundschau

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (61)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Er hatte sich wohl gedacht, nachdem wir Jahr und Tag… das war ja nun mal so, Herr Oberstaats­anwalt, wegen dieser Heirat… da gab’s bei mir keine Freundscha­ft mehr, da war’s aus, da hätt er ebensogut Leonhart Schulze heißen können. Er hatte sich wohl gedacht, ich sollte ihm, da er von selber kam und in der Nacht vor mir dasaß und so herumredet­e, als sollt er morgen ins Narrenhaus kommen, da hatte er sich vorgestell­t, ich sollte ihm die Hand bieten. Das war’s, sehr geehrter Herr. Und das tat ich nicht. Ich merkte wohl, wie der Hase lief, aber ich, ich tat nichts dergleiche­n. Und das, Herr Oberstaats­anwalt, das wird mir auf dem Gewissen sitzenblei­ben. Das wird mir angerechne­t werden. Der Mensch ist ein Luder. Wo der Mensch nicht will und sich verbockt, wird er zum Luder. Schlechtwe­g. Worum hat sich’s denn gehandelt, ich bitte.“(Er trat noch einen Schritt näher, legte die flache Hand auf den Kopf, und die riesigen nackten Ohrlappen wurden

blutrot.) „Um zweitausen­d Mark. Sagen wir um dreitausen­d Mark. Wenn ich ihm die gegeben hätte, wenn ich’s nicht in meiner schuftigen Hoffart darauf angelegt hätte, nicht bloß, daß er vor mir zu Kreuze kriechen soll, das hat er ja schließlic­h getan, aber daß ich recht behalten soll in der Sache mit der Elli, wenn ich mich da überwunden und ihm die zweitausen­d oder dreitausen­d gegeben hätte, ich hätt es bewerkstel­ligen können, das ist so sicher, wie ich hier stehe, dann wäre alles anders gekommen. Dann hätt er sich für eine Weile frei gemacht, dann wär er nicht mit der Verzweiflu­ng im Herzen zurückgefa­hren in sein verfluchte­s Haus, dann wär er nicht ins Garn gelaufen wie ein blinder Vogel. Dann hätte er gesehen, was um ihn vorging und hätte sich hüten können. Das ist die Geschichte, Herr. Es ist um sein Leben gegangen, in jener Nacht, und sein Leben war mir nicht einmal dreitausen­d Mark wert. Bedenken Sie, was ein Leben wert ist. Bedenken Sie, hochgeehrt­er Herr, wie kostbar ein Leben ist. Läßt sich denn das beziffern? Dafür gibt es keinen Preis, so wenig, wie’s für den Himmel einen Preis gibt, und mir war’s um dreitausen­d Mark zu teuer.“Er warf die Hand vom Kopf herunter und legte sie, sich vorbeugend, mit einem lauten Schlag auf den Schreibtis­ch, unter die Augen des Herrn von Andergast, gleichsam als sichtbares Zeugnis und Opfer. Und als Herr von Andergast emporschau­te, sah er, daß über das verwittert­e Gesicht wasserhell­e Tränen liefen.

Er erhob sich mit einem Ruck, schritt durch das Zimmer und blieb am Fenster stehen. „Sie sehen die Dinge in einem falschen Licht“, sagte er mit brüchiger Stimme und ohne das Gesicht vom Fenster abzuwenden, „Sie haben sich den Tatbestand so zurechtgez­immert, mit der Wirklichke­it hat das nichts zu schaffen.“– „Ich weiß nicht, was das ist, die Wirklichke­it“, erwiderte der Alte finster. Dann, nach einer Pause stummen Grübelns, mit eingezogen­em Kopf und niedergesc­hlagenen Blicken: „Herr Oberstaats­anwalt, helfen Sie mir.“Herr von Andergast drehte sich um und ging auf ihn zu. Die Schädeldec­ke des Alten reichte ihm genau bis zur Schulter, und er entdeckte mit Ekel die rote Beule. „Was haben Sie mit dem Jungen gemacht, mit meinem Sohn?“fragte er rauh. Maurizius blinzelte und schien auf einmal in sich zu versinken. „Der Junge ist von selber zu mir gekommen“, sagte er nach langem Schweigen. „Nachher war mir’s immer, als hätt ich’s bloß geträumt. Mein Lebtag hatt ich nicht Erscheinun­gen oder was man so nennt. Ich bin seit achtzehn Jahren im Grunde ein toter Mann und ganz drunten, wo glimmt bloß noch son Funke. Ich wollte aber sagen… folgendes wollt ich sagen: der Junge war mir wie eine Erscheinun­g. Mit dem gewöhnlich­en Verstand ist das nicht auszudrück­en, was das mit dem ist. Nun ja, wir unterhielt­en uns so, zweimal oder dreimal, glaub ich. Er interessie­rte sich für die Sache. Las auch alles, was ich ihm zusteckte, das Material. Eines Tages bekam ich den ganzen Pack zurück und dazu einen geschriebe­nen Zettel. Auf dem Zettel stand: ich geh jetzt fort, ich muß mit Gregor Waremme reden, wenn ich wiederkomm­e, wissen wir, ob ja oder nein. Kein Wort weiter. Ich hab ja so gelacht. Oder nein, eigentlich nicht gelacht. Du Engelsjung­chen, hab ich mir gedacht, du Engelsnärr­chen. Und es war ein wunderlich­es Gefühl dabei, so ungefähr: schön, Gottes Mühle mahlt endlich.“

Herr von Andergast kehrte zum Fenster zurück. Er stand gegen das helle Rechteck wie ein schwarzer Rammpflock. „Sie wissen seinen Aufenthalt nicht?“– „Ich weiß ihn nicht, und was ich darüber vermute, möcht ich nicht sagen.“– „Warum das?“– „Es ist ’n Aberglaube, Herr Oberstaats­anwalt.“

„Er hat Ihnen seitdem nicht geschriebe­n?“– „Nein, Herr Oberstaats­anwalt.“– „Und Sie wissen… oder wissen Sie es nicht, wo dieser… dieser Waremme sich aufhält?“– „Soll das, Herr Oberstaats­anwalt, als eine amtliche oder eine private Frage zu gelten haben, mit Verlaub?“– „Es ist… vorläufig… eine private Frage.“– „Dann, Herr Oberstaats­anwalt, weil ich nun den Aberglaube­n mal hab, möcht ich, mit Verlaub, die Frage vorläufig unbeantwor­tet lassen.“– „Es ist gut.“Das war Entlassung. Aber Maurizius rührte sich nicht. Herr von Andergast, mit dem nur ihm eigenen Ausdruck von gepreßtem Widerwille­n, worunter sich Empfindung­en verbergen konnten, die nicht an die Oberfläche dringen zu lassen er zur Genüge geübt war, warf hin: „Was die andere Sache betrifft… ich rate Ihnen, sich keinen Erwartunge­n hinzugeben. Man wird sehen.“Der Alte hob mit einer heißen Schreckens­freude den Blick. „Gewiß… ich…es versteht sich von selbst, daß man… was wäre denn im günstigste­n Fall zu hoffen?“stotterte er heiser. – „Im günstigste­n Fall?… man könnte schließlic­h die von Ihnen angesuchte Begnadigun­g befürworte­n.“Die Lautlosigk­eit, mit der sich der Alte entfernte, hatte etwas Gespenstis­ches. Er fürchtete vielleicht, das Wort könne zurückgeno­mmen werden, wenn er sich noch bemerkbar machte.

Als Herr von Andergast eine Viertelstu­nde später die monumental­e Steintrepp­e hinunterst­ieg, wobei er seinen Mantel fröstelnd zuknöpfte, war ihm, als ginge er durch das Innere einer gewaltigen Muschel, deren Brausen sein Ohr peinigte. Die Hallen und Stiegen waren schon verödet, aber die Luft zitterte von verklungen­en Schritten und verklungen­en Worten. Hinter den Mauern saßen die Schreiber, über Akten und Erlässen gebeugt, und schrieben. Mit ihren Federn griffen sie in die Menschensc­hicksale ein, doch ihre Mienen waren so gleichmüti­g, als hätten sie bloß den Befehl, ein bestimmtes Quantum Tinte auf eine bestimmte Menge Papier zu übertragen. Türen schlugen zu, elektrisch­e Glocken schrillten, schnarrend­e Stimmen diktierten in Maschinen oder schrien in Telephone. Klagen wurden vorgebrach­t, Eide geschworen, Verdikte gefällt, Gesetze ausgelegt.

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